Es gibt viele wissenschaftlich begründete Theorien und daraus abgeleitete Empfehlungen zu Training, Leistungssteigerung und Regeneration. In der Regel ist man damit gut beraten. Auf der anderen Seite gibt es die Praxis. Die zeigt uns, was entgegen aller Empfehlungen möglich ist. Dies möchte ich in einer kleinen Serie zeigen.
Beginnen möchte ich mit einem Rekord, der mich Ende 2018 begeistert hat. Es ist zwar schon wieder ein paar Monate her, trotzdem möchte ich es an dieser Stelle nochmal würdigen, da es mich mehr fasziniert hat als die reihenweise von den kenianischen Läufern erzielten Zeiten.
Am 15.12.2018 unterbot der Amerikaner Gene Dykes beim Jacksonville Marathon den aktuellen M70-Weltrekord. Er kam mit unfassbaren 2:54:23 h ins Ziel!
Auch wenn diese Zeit womöglich wegen fehlender Zertifizierung des Rennens nicht als Weltrekord anerkannt wird, bleibt es eine bemerkenswerte Leistung. Wer sich Gene Dykes auf Youtube anschaut, sieht einen locker laufenden 70 jährigen Läufer, dessen Beispiel uns vor allem im Alter Mut machen sollte.
In 2018 lief er vorher bereits in Toronto 2:55:17 h und in Rotterdam 2:57:43 h.
Im Strava-Block wurde dazu am 21.12.2018 folgender Artikel veröffentlicht.
70 Jahre jung: Gene Dykes läuft Marathon-Weltrekord in 2:54:23 (von Katherine Turner)
Mit zunehmendem Alter schneller laufen? Die Geschichte hinter diesem Rekordlauf sollte Hoffnung machen.
In 2 Stunden 54 Minuten und 23 Sekunden bei einem durchschnittlichen Tempo von 4:08 min/km einen Marathon zu laufen, ist für jeden Sportler, egal welchen Alters, eine beeindruckende Leistung. Dies jedoch im Alter von 70 Jahren zu schaffen, ist einfach unglaublich. Und genau das hat der Amerikaner Gene Dykes gemacht. Am 15. Dezember brach er beim Jacksonville Marathon den bisherigen M70-74-Weltrekord – Ed Whitlocks 2:54:48 aus dem Jahr 2004 – um 25 Sekunden. Mehr noch: Er erreichte diese Zeit nur zwei Wochen nach einem Wochenend-Doppel, bei dem er unter anderem einen 50-km-Geländelauf finishte. Damit ist klar, Gene ist kein Durchschnitts-Sportler.
Als wir Gene ein paar Tage nach dem Rennen zu fassen bekamen, verriet er uns, dass er nicht ganz sicher war, ob er den Rekord brechen würde. „Wenn ich selbstbewusster gewesen wäre, hätte ich mehr Leute informiert, aber ich wusste nicht, wie sehr mich die beiden großen Wettkämpfe beeinflussen würden“, sagte Gene. „Ich hoffte natürlich, Eds Rekord einfach brechen zu können. Meine Fitness war definitiv gut genug, also ging es nur darum, ob die Pause nach den beiden Rennen zwei Wochen vorher ausreichte“.
„Ein 50-km-Geländelauf und ein Straßenmarathon an zwei aufeinander folgenden Tagen, nur zwei Wochen vor einem Weltrekordversuch, ist eine eher untypische Vorbereitung! Doch es reichte Gene nur 13 Tage vor dem Wettkampf die Belastung zu reduzieren. Ich bin am Wochenende vor Jacksonville sogar noch ein 5K-Rennen gelaufen, damit meine Beine nicht zu faul werden“, lacht Gene.
Gene hat tatsächlich Anfang des Jahres bereits versucht, in Toronto den Marathon-Rekord zu brechen, sein Ziel aber knapp verfehlt. Was war diesmal anders? „Erstens hatte ich irgendwann zwischen den beiden Rennen einen Durchbruch. Beim Halbmarathon in Philadelphia dachte ich, dass ich in der Form bin um eine 1:26 zu laufen, ich schaffte aber sogar eine 1:25:07. Es kommt nicht oft vor, dass ich meine eigenen Erwartungen übertreffe. Ich bin ziemlich im Einklang mit meiner Fitness“, erklärt Gene. „Zweitens hatte ich eine neue Energiestrategie“.
Diesmal aber lief es richtig gut– und zwar bis zum Ende. „Wenn ich an der Startlinie stehe, bin ich immer überzeugt, dass ich meinem Training vertrauen kann. Sich 42 Kilometer mit einem Durchschnittstempo von 4:08 min/km zu stellen, wäre sonst furchteinflößend“, sagt Gene. „Nach etwa 32 Kilometern fängt man an, nach Anzeichen der Schwäche Ausschau zu halten, aber ich bemerkte keines der verräterischen Zeichen und wusste, dass es mein Tag werden würde. Dann bei Kilometer 34 spüre ich ein Stechen in der Wade. Nur 400 Meter von der Ziellinie entfernt, mit dem Ziel schon vor Augen, wurde mein schlimmster Albtraum wahr. Ich bekam einen richtig heftigen Krampf in meiner linken Wade. Hier stand ich nun, das Rennen in Weltrekordgeschwindigkeit gelaufen und nur noch ein paar Minuten vor mir und der Schmerz lässt mich kaum weiterlaufen. Glücklicherweise hat der Krampf nach 10-20 Sekunden nachgelassen, und ich habe die Ziellinie mit neuer Bestzeit erreicht“.
Die Frage, die sich jeder stellt, ist also: Wie hat es Gene geschafft, im Alter von 70 Jahren ein so bemerkenswertes Fitness-Level zu erreichen? Gene weist auf drei Schlüsselfaktoren hin. „Vergiss nicht, dass es einen Unterschied zwischen Langlebigkeit und Erfolg in vorgerücktem Alter gibt. Ich laufe erst seit 12 Jahren Wettkämpfe. Wir können also über Langlebigkeit sprechen, wenn ich anfange, die Rekorde herauszufordern, die Ed Whitlock in seinen 80ern aufgestellt hat. Die Tatsache, dass ich noch relativ unerfahren bin, ist vielmehr der erste große Schlüssel zum Erfolg im fortgeschrittenen Alter. Mein Körper wurde nicht durch jahrzehntelanges hartes Training und Wettkämpfe belastet. Als jüngerer Läufer erfolgreich zu sein, ist ein sehr großer Faktor, später im Leben nicht mehr so stark zu sein“, erklärt er. „Ein weiterer Schlüssel zum Erfolg ist meiner Meinung nach ein gutes Coaching. Ohne den Trainer, den ich vor fünf Jahren gefunden habe, wäre ich immer noch ein Niemand. Der dritte Schlüssel zum Erfolg, der zumindest für mich funktioniert, ist, eine starke Grundlagenausdauer aufrecht zu erhalten, indem man an vielen Ultras teilnimmt: Jede Menge davon“.
Und genau das will Gene als nächstes tun! Allein im Januar hat er zwei 50-Meilen-Geländeläufe absolviert, während er im Februar sowohl einen 100-Meilen- als auch einen 200-Meilen-Geländelauf in seinen Kalender eingetragen hat. Eines ist jedenfalls sicher: Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er in absehbarer Zeit langsamer wird.
Nachtrag: Gene Dykes lief in Boston 2019 (jetzt mit 71 Jahren) eine Zeit von 2:58:50 h!! Zum Vergleich: einige unserer Greif-Club-Mitglieder starteten in diesem Jahr in Boston. Eigentlich alle haderten mit den schwierigen Bedingungen und der Strecke. Nur ein einziger konnte seine Bestzeit um 3 min steigern (auf 3:16 h).