Anfang der 80- bis Mitte der 90-iger Jahre betätigte sich der Autor dieser Zeilen auch sehr als Jugendtrainer. Wir waren erfolgreich auf vielen Strecken, errangen eine Anzahl von Deutschen Meisterschaften und stellten Teilnehmer an Welt- und Europameisterschaften.
Trotz dieser Erfolge oder gerade deswegen, wurde ich als Trainer geradezu gemobbt. Hörte einmal jemand von den jungen Athleten auf, dann kamen die Stimmen der erfolglosen Trainer aus dem Hintergrund: "Der wurde verheizt!" Die eigenen jugendlichen Athleten der Kritiker, die im gleichen Maße aus der Szene verschwanden, bemerkte man kaum. Denn diese zierten nur selten das Treppchen.
Mir war damals eigentlich gar nicht klar, was das war "verheizen". Zu viel Training, zu intensiv oder zu viele Wettkämpfe? Vom DLV hieß es dann immer vorsichtig aufbauen, damit sie später für höhere Aufgaben erfolgreich sind. Für höhere Aufgaben? Wenn ein Junge von 18 Jahren die 1000 m nicht unter 3 min laufen kann, für welche höhere Aufgaben soll ich den denn schonen? Für die Kreismeisterschaft über 3000 m?
Das war ein geradezu großartiger Blödsinn. Also habe ich mich dem Drängen der langsamen, aber ausdauerbegabten jungen Leute gebeugt und habe sie auch schon mit 18 - 19 Jahren Marathon laufen lassen. Da waren sie dann mit Zeiten unter 2:30 auch noch maximal erfolgreich. Für mehr reichte dann auch die Grundschnelligkeit schon nicht mehr.
Heute sind Zeiten unter 2:30 h über die 42,2 km schon bei Erwachsenen eine Seltenheit geworden, aber in diesen Jahren waren das Standardresultate. Die Langsamsten in unserer meistens gut 50 Personen starken Gruppe liefen 2:50 h.
Man muss sich einmal die damalige Situation vorstellen. An die 50 hochleistungsfähige Läufer(innen) im Verein der LG Seesen. Jeden Montag und Mittwoch war Gruppentraining und mitten dazwischen unsere Jugendlichen (keine Kinder!). Die waren nicht zu bremsen, sie wollten sich beweisen und sind einfach mitgerannt und wie. Da flogen die Fetzen.
Alle Erwachsenen waren heiß auf Marathon, dessen Faszination damals mehr und mehr wuchs. Die jungen Leute wollten natürlich auch Marathon rennen. Wir haben dagegen gekämpft, aber aufzuhalten waren die nicht. So haben wir uns dann ergeben und die nicht so Grundschnellen auch auf die 42,2 km gelassen.
Der Witz bei der Geschichte war, dass unser damalig schnellster Läufer, Karsten Müller, als Jugendlicher niemals über eine Strecke von mehr als 20 km in einen Wettkampf gegangen ist. Bei ihm hatten wir auch die Hoffnung, dass er es noch weiter nach oben schafft.
Aus persönlichen Gründen beendete er mit 19 Jahren seine Karriere und stieg fast 15 Jahre später noch einmal in den Leistungssport ein. Jetzt natürlich gleich mit dem Ziel den Marathon unter 2:30 h zu laufen. So oft er es auch versuchte, er hat es nie in seinem Leben geschafft. Bei 2:31 war immer Sense. Dabei muss man aber bedenken, dass Karsten glaubte, dass die Gesetze des Langstreckenlaufs nur für die anderen galten, nicht für ihn.
Immer wenn ich vor einem weiteren Start bei einem "Kuhkacken-Dorflauf" warnte, merkte er an: "Mir macht das nichts aus, ich bin nicht so empfindlich." War er doch, besonders in seiner Seele und die hat ihm so machen Strich im Leben eingebracht. Karsten läuft nun seit einigen Jahren überhaupt nicht mehr und ist, wie man hört, wohl nicht besonders glücklich.
Zurück kommend auf die Empfehlungen des DLV´s zum Jugendtraining, schaute ich natürlich auch in das Ausland und besonders auf das, was in Kenia mit den Jugendlichen gemacht wurde. Nun muss man wissen, dass es in diesen Jahren einen Rahmentrainingsplan für Jugendliche gab. Dortige Empfehlung für A- und B-Jungendliche von 16 - 19 Jahre für Ausdauerläufe: 29 km/Woche. Alle andere Übungseinheiten sollten allgemeiner Art sein.
Nun erfuhren wir wir aber auf einem DLV-Trainerlehrgang von Pater Colm O´Connel, wie man im südlichen Afrika trainierte. Der ehemalige Bundestrainer Lothar Pöhlitz, der diesen Vortrag auch hörte, schrieb in einem Beitrag in LA Coaching Academy:
"Kenias Talentschmiede St.Patrick High Scholl Iten liegt 35 Minuten von Eldoret entfernt auf etwa 2500 m Höhe in einem sehr hügeligen bis bergigen Gelände. Schon 1996 berichtete der Leiter dieser "Eliteschule" Pater Colm O´Connel, im Rahmen eines DLV-Trainerseminars über das Training der dort internatsmäßig untergebrachten 14 – 19 jährigen Jungen und Mädchen. Die wohl berühmtesten Söhne der Schule Wilson Kipketer und Mike Boit hatten schon damals den Namen des Camps in alle Welt getragen.
Heute wollen wir ihre Aufmerksamkeit noch einmal auf das recht anspruchsvolle Training der jungen Boys and Girls richten, ergänzt durch Erfahrungen von Marius Bakken*, der sich vor Ort selbst überzeugt hat, dass eine frühzeitige , auch intensive Belastung von Talenten durchaus in die Weltspitze führt. Das vor allem Top - Mittelstreckler ihr Handwerk in Iten erlernten, hat seinen Grund sicher auch darin, dass sie, bei 13 Trainingseinheiten pro Woche, im Frühjahr zweimal in der Woche in 20 Minuten Fahrt zum Geschwindigkeitstraining (speed-work) "ins Tal" (in 1000 m Höhe) fahren."
Pater O´Connel referierte schon 1996 vor DLV-Trainern
"Wenn wir mit 14 Jahren - dann werden die Schüler nach einem Aufnahmeverfahren zu uns ins Internat aufgenommen – mit Talenten gezielt mit dem Training beginnen, ist die Ernte schon zu 80 % eingefahren, weil die Kinder bereits ab 6 Jahre laufen, zum Markt, zur Schule, die Berge hinauf und hinunter, zu Verwandten, bis zu 10 km am Tag.
Dann haben wir die Schüler bis 19 Jahre und trainieren mit ihnen täglich zweimal und 3 x im Jahr in den Ferien (dann führen wir jeweils 4 Wochen lang ein Trainingslager durch) auch dreimal am Tag!"
Bei einem von ihm gezeigten Video über das Training habe ich mir damals folgende Stichpunkte notiert: 1. TE morgens vor der Schule (5:45 Uhr) - DL + FS im Gelände: barfuß – Bodenwechsel, Rhythmuswechsel, stark profiliert, z.T. steil bergauf und bergab, große Gruppe; Treppenarbeit, Athletik, Gymnastik während des Laufens wie in Äthiopien, große Schritte, Beweglichkeit.
Ich habe es nach dem Vortrag einmal ausgerechnet: Die Ein- und Auslauf-km der kenianischen Jugendlichen waren in ihrer Gesamtheit mehr, als die 29 km aus dem gesamten Rahmentrainingsplan des DLVs. Und da wundern wir uns, dass wir hinterher laufen.
Wer aber als Trainer nicht genügend Persönlichkeit und Selbstbewusstsein hatte, glaubte den DLV-Vorgaben und hat seine meist durchschnittlichen Jugendlichen in die internationale Unterdurchschnittlichkeit hinein gepampert. Aber es gab auch Läufer wie Dieter Baumann, die haben sich keinem Diktat bebeugt und haben mit Erfolg ihr eigenes Ding gemacht.
Was nun aus heutiger Sicht die Wissenschaft zum Kinder- und Jugendtraining sagt, referierte Prof. Dr. Joachim Mester vor Kurzem in Kienbaum. Davon mehr im nächsten Newsletter. Du wirst dich wundern!! Hier schon einmal ein paar Zeilen aus Leichtathletik aktuell:
"Kindgerechtes Training eine Frage der Dosis
Nach der erfolgreichen Medaillenernte deutscher Leichtathleten bei der WM in Berlin beschäftigte sich der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) am Wochenende bei der Spitzensporttagung im Bundesleistungszentrum Kienbaum auch mit der Frage, wie Leistungspotenziale künftig zu erschließen sind. Die Grundlagen zur späteren hochleistungssportlichen Entwicklung können bereits im Kindesalter entwickelt werden, so lautete das Fazit eines dazu stattfindenden sportwissenschaftlichen Symposiums.
"Nur die Dosis macht das Gift", sagte der Kölner Sportwissenschaftler Prof. Dr. Joachim Mester, Leiter des Instituts für Trainingswissenschaft und Sportinformatik, im gut gefüllten Kinosaal des Bundesleistungszentrums vor den versammelten DLV-Spitzentrainern."