In der Vorwoche hatten wir uns an dieser Stelle auch schon mit Kinder- und Jugendtraining beschäftigt. Dabei beklagte ich, dass wir unsere Jugendlichen viel zu sanft anfassen und zu lange warten, bevor wir ihnen umfangreiche und schnelle Einheiten zumuten.
Dabei berichteten wir auch über das Training jugendlicher kenianischer Langstreckenläufer. Der kenianische Trainer Pater O´Connel erzählte dann aber auch im kleinen Kreise: "Bändigen können wir unsere jungen Leute nicht. Weil wir in großen Gruppen trainieren, entwickelt sich fast jedes Training zumindest zum Ende hin zu einem Wettkampf.
Wenn wir in den Ferien dreimal täglich trainieren, dann werden im Morgentraining die letzten 1000 - 1500 m im vollen Spurt gelaufen. Mittags sind es dann schon ein paar km mehr und beim Abendtraining gibt es von Anfang bis zum Ende ein brutales Ausscheidungsrennen. "Wir versuchen das zu unterbinden, weil wir bei internationalen Meisterschaften oft die Spurtentscheidungen verlieren. Die jungen Leute sind dann einfach nicht frisch genug.
Es wird langsam besser, aber im Griff haben wir das nicht. Aber dennoch setzen sich die Stärksten durch. Wenn Sie unsere Schule verlassen, kommen sie in andere Trainingscamps von verschiedenen Gruppierungen, besonders stark ist die Gruppe der Eisenbahner. Die kenianische Staatsbahn unterstützt die Läufer mit solchen Camps. Dort wird wohl eher diszipliniert trainiert. Aber was die so wirklich machen, kommt nicht so richtig raus."
Diese Beschreibung von Pater O´ Connel erinnert mich an unsere Trainingsurlaube. Dort fighten die unterschiedlich starken Gruppen bei den Tempoläufen untereinander, was die Schnürbänder aushalten. In früheren Jahren haben wir versucht die Teilnehmer anzuhalten, in den ersten Tagen nicht so viel "Gas" zu geben.
Wir konnten reden was wir wollten, wenn es in die Tempoläufe ging, dann hatten alle, sinnbildlich gesehen, das Messer zwischen den Zähnen. Seit einigen Jahren beginnen wir am zweiten Tag schon mit einem 10000 m-Lauf und ermuntern die Teilnehmer mit vollem Einsatz zu laufen.
Das klappt eigentlich sehr gut. Wenn dieser 10-ner durch ist, weiß jede(r) auf welchem Rang in der Hierarchie er sich befindet und in welcher Leistungsgruppe er dann trainiert. Aber eines ist geblieben, ein Trainingsurlaub läuft immer nach dem gleichen Motto ab: 5 Tage herumtoben, 5 Tage angepasstes Training und 4 Tage Abhängen. Aber wie auch immer: Danach werden teilweise traumhafte Bestzeiten gelaufen und dann kann es nicht alles so falsch sein.
Aber zurück zum Jugendtraining. Es ist nun nicht so, dass hier in Deutschland alle Trainer und Sportwissenschaftler schlafen. Bei einer Tagung im September 2009 in Kienbaum referierte Sportwissenschaftler Prof. Dr. Joachim Mester über kindgerechtes Training. Wohlgemerkt: Kindgerechtes Training. Der Titel: "Nur die Dosis macht das Gift".
Eindrucksvoll die einführenden Sätze des Referenten:
"Frühe geistige und körperliche Belastung wichtig
So müsse man sich künftig vor allem von noch immer kursierenden Lehrmeinungen und Fachbüchern - welche vor allem im deutschsprachigem Raum anzutreffen wären - mit Deutlichkeit verabschieden. "Dort wird, wie vor 20 Jahren, gelehrt und verbreitet, dass Kinder keinerlei Krafttraining praktizieren dürfen und auch anaerobes Training Gift für die spätere Leistungsentwicklung ist", gab der Wissenschaftler einen Hinweis.
Natürlich gelte trotzdem die frühe Erkenntnis des Schweizer Arztes Edouard Claparède (1873-1940), dass "das Kind kein Miniaturerwachsener ist". "Dennoch müssen Kinder für ihre Entwicklung die vielfältigen Angebote der Umwelt wahrnehmen", betonte Prof. Dr. Joachim Mester.
Dies sei schließlich sinnvolles Training und mit falsch verstandener "Overprotection" würde man die "wichtige frühe Arbeit mit geistiger und körperlicher Belastung" verhindern. Und genau diese Lehrbuchlage würde den Wissenstransfer über neuere biologische Studien und Forschungsergebnisse um derzeit bis zu acht Jahre verzögern. "Diese Erkenntnisse werden nicht in zeitgemäße Trainingseffekte ungesetzt", beklagt Prof. Dr. Joachim Mester die derzeitige Lage."
"20 Jahre Rückstand", das sind harte Worte und ein klarer Hinweis, dass wir im Kindertraining etwas ändern müssen. Und das zieht sich fort in das Jugend- und Erwachsenentraining. Wir müssen den Tatsachen in die Augen blicken: Wir sind im Langstreckenbereich eine drittklassige Nation und wenn wir so weiter machen, werden wir das auch bleiben.
Weiter führte Mester auf: "Natürliches Intervalltraining: Auch beim anaeroben Training von Kindern müsse es ein Umdenken geben. "Kinder geben beim Spielen Gas. Dabei machen die Jüngsten ein natürliches Intervalltraining durch und bewegen sich ständig im Wechsel von hoch intensiven und geringen Belastungen, das höchstens für acht bis zehn Minuten. Dann machen sie eine Pause und sind in der Lage, nach wenigen Minuten Erholung erneut ein ähnlich intensives Programm zu absolvieren. Langsames Ausdauertraining wollen Kinder in der Regel nicht".
So habe die Wissenschaft weiter herausgefunden, das anaerobes Training die Sauerstoffaufnahmefähigkeit bei Kindern um fünf bis sechs Prozent verbessere und die Herzleistungsfähigkeit im Hinblick auf die maximale Herzfrequenz um 85 Prozent steigern würde. "Das haben Metaanalysen anhand von 69 Studien bewiesen."
"Früh anfangen". Auch ein "Ausbrenneffekt", das häufig befürchtete "Drop-Out-Syndrom", welcher die angebliche Folge zu frühen anaeroben Trainings sei, wäre völlig hypothetisch und gelte derzeit als wissenschaftlich widerlegt, unterstrich der Kölner Sportwissenschaftler."
Diese Aussagen kommen schon einem Paradigmenbruch gleich. Bis sich solch ein Training durchsetzt, dauert es sicher noch einmal 20 Jahre. Zu sehr sitzt der erlernte Schongedanke in den Köpfen der Übungsleiter. Aber der Anfang ist gelegt.
"Das Geheimnis des Erfolgs liege allerdings in der kindangemessenen Dosierung bei der Umsetzung der neuen naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse. Hier sei Deutschland noch in der Diaspora. US-Studien zufolge sollten Kinder maximal fünf Mal in der Woche trainieren, einen Tag absolute Trainingspause haben und über insgesamt, je nach Sportart, zwei bis drei Monate Trainingsfreizeit im Jahr verfügen können. Ansonsten lohnt sich das Training von Kondition und Koordination immer", meinte Prof. Dr. Joachim Mester als Resümee. (Alle Zitate aus Leichtathletik aktuell)
Immer werden Fragen zum Kindertraining an mich gestellt, die meistens etwa so lauten: "Wir haben bei uns im Lauftreff einen 10-jährigen, der ist ein wirkliches Talent. Er rennt mit den besten Erwachsenen mit und möchte jetzt einen Trainingsplan haben."
Meine Antwort darauf ist immer: Kinder gehören nicht in den Lauftreff, sondern in die Leichtathletik. Hier werden Sie besser körperlich entwickelt und lernen auch richtig schnell zu laufen. Im Lauftreff geht es zu sehr um die Ausdauer.
In diesem Sinne sollten wir uns doch alle einmal Gedanken machen, wie wir auch Kinder und Jugendliche in den Lauftreff integrieren können. Dazu fallen mir allerlei Spiele ein, die man auch in Wald und Feld absolvieren könnte und die ein hohes Tempo erfordern und immer wieder Pausen nach sich ziehen.
Das würde unseren Lauftreffs sicher auch gut tun. Wenn ich unseren ehemals stolzen Seesener-Sonntagsmorgen-Lauftreff anschaue, dann schleifen jetzt 60% der Teilnehmer Stöcke mit sich und die restlichen 40% kommen entweder gar nicht oder liefern sich mit den roten Wegschnecken am Berg erbitterte Duelle.