In diesen Tagen mehren sich Anfragen an mich, die etwa so lauten: "Am kommenden Wochenende laufe ich in XXX einen Halbmarathon. Wie schnell soll ich den angehen?" Na ja, denke ich dann, er soll doch erst einmal loslaufen, dann wird er schon merken, wie schnell er laufen kann. Mache mich aber dennoch daran, diesen Läufer zu beraten. Denn so eine Anfrage spricht von Unerfahrenheit und der daraus resultierenden Unsicherheit.
So nehme ich mich dann auch immer zurück und ziehe nicht vergangene Zeiten heran, als jeder durchschnittliche Läufer(in) 15 - 20 Rennen im Jahr lief. Da wusste jeder, was er drauf hatte und wie schnell er sein Rennen starten konnte oder wollte. In unseren Tagen gibt es oft eine Wettkampfzurückhaltung, die ist unglaublich. Es gibt wirklich Läufer(innen), die laufen nur Marathon und dies auch manchmal nur einmal im Jahr.
Kommen wir aber zurück auf den Halbmarathon. Warum werde ich so oft nach der möglichen Zeit auf den ersten km gefragt? Ursächlich liegt der Grund wohl in den negativen Erfahrungen auf der Marathonstrecke begraben. Wer da auf den ersten km zu schnell ist, erlebt sein Desaster. Mit erheblichen körperlichen und seelischen Schmerzen.
Das ist aber bei einem Halbmarathon in keiner Weise so. Wer diese Distanz zu schnell angeht, der wird das auch schnell merken, dass er zu flott unterwegs ist. Dann nimmt man das Tempo etwas raus und kommt auch in einer passenden Zeit in das Ziel und dies alles ohne das Gefühl zu haben, gleich körperlich zusammen zu brechen.
Natürlich könntest du jetzt einwenden, es wäre aber dennoch schön, wenn man wüsste, welches gleichmäßige Tempo über die gesamte Strecke möglich ist. Das ist richtig und würde helfen, sich sein Rennen über die gesamte Distanz optimal einzuteilen. Leider ist das nur ein Wunschtraum, denn niemand kann ganz exakt voraus berechnen welche Leistung möglich ist. Allein Tagesform und Wetterbedingungen sind kaum kalkulierbar.
Muss es denn immer der genau geplante Rennverlauf sein? Ich glaube nicht. Zwar gibt es einige "Wahnsinnige", von denen jeder einen kennt und die praktisch in jedem Rennen zu schnell angehen und am Ende "sterben". Aber die mutlosen, die ständig aus Angst vor einem Kräfteeinbruch am Ende viel zu langsam anlaufen, bemerkt kaum jemand.
Diese Läufer(innen) leben in einem persönlichen Dilemma. Aus Angst im Rennen zu verwelken, geht diese Gruppe kein Risiko ein und sie lernen dadurch nicht, wie ihr Körper im Auslastungsbereich reagiert. Dadurch wird zum ersten die mögliche Zeit nicht ausgeschöpft und zum zweiten können sie durch ihr Unwissen nicht taktieren, denn sie ahnen ja nicht einmal, was sie hinter dem bisher gewohnten Tempo noch für Möglichkeiten haben.
Wenn du die Grenzen nicht suchst, wirst du sie auch nicht finden. Und an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit gehen heute viel weniger Menschen als früher, wobei es damals auch noch nicht so viele aktive Läufer gab. Wenn ich mit dir jetzt am letzten km eines Rennens stehen würde, dann könnte ich mit dem Finger auf alle die zeigen, die unter ihren Möglichkeiten bleiben.
Auch da kommt dann natürlich von den Betroffenen der Einwurf: "Ich will gar nicht so hart laufen, mir reicht es, wenn ich gut durch komme." Meine Antwort zu solch einer Aussage ist: "Das kannst du auch zu Hause im Training haben. Dies ist hier ein Wettkampf und du beleidigst jeden Läufer der vor dir ist, wenn du nicht dein Bestes gibst, um ihn zu schlagen."
Noch mehr nerven die Typen, die nach dem Zieleinlauf anmerken: "Wenn ich Ernst gemacht hätte, dann hätte ich dir eine ganze Minute gegeben."
Welche positiven Auswirkungen es hat, wenn man Läufer(innen) einmal die Bremsen weg nimmt, die da sind Pulser und Uhr, mag dir Folgendes zeigen: In jedem unserer Trainingsurlaube gibt es am Anfang einen 10 km-Tempolauf ohne Uhr. Dabei dürfen die Beteiligten keinen Zeitmesser und auch keinen Pulser tragen und sie müssen vorher sagen, wie schnell sie diese 10 km laufen können.
Sie müssen also quasi blind loslaufen. Orientierungspunkte durch andere Mitläufer gibt es kaum, denn man kennt sich noch nicht und weiß den Gegner(in) nicht richtig einzuordnen. Was denkst du, was da passiert? Mehr als die Hälfte aller rennen schneller als angegeben und nicht wenige laufen persönliche Rekorde über die 10000 m.
So bleibt als Fazit, dass dich dein Kopf nicht nur schneller machen kann, sondern auch langsamer. Ich kann dir nur raten: Gehe doch einmal in einen Wettkampf und lege einfach nach Gefühl los und lasse dich von deinem Inneren mit allem Ehrgeiz in das Ziel tragen. Du kannst das, jeder hat ein Gefühl für seine mögliche Leistung.
Ein ähnliches Vorsichtsverhalten gibt es beim Trainingsumfang und -intensität. Es wagen sich sehr viele Menschen nicht an größere und schnellere Belastungen heran, aus Angst diese Aufgabe nicht erfüllen zu können oder sich zu verletzen. Dabei wird aber meist nicht die eigene Erfahrung herangezogen, sondern die der laufenden Umgebung. Wenn der Lauftreffleiter 40 km/Woche für ein belastendes Training hält, machen sich doch seine Jünger bei 60 km/Woche schon in die Hose.
Witzig war es hier bei uns in Seesen in den 80-er und 90-er Jahren. Es gab zu dieser Zeit eine mehr oder mindere Trennung des Lauftreffs von der LG Seesen. Obwohl es Bindeglieder gab, die sich in beiden Bereichen bewegten. Die "Guten" der LG trainierten so zwischen 120 und 180 km/Woche. Unsere Lauftreffler "beschimpften" uns deswegen ständig als Profis und liefen aber selbst zwischen 80 und 120 km/Woche. Das hielten sie für wenig und lauftreffangepasst.
Also mache dich auch hier frei von örtlichen Normen. Ich kann dir versichern: Wenn du eine 10 km-Zeit unter 36 min hast, dann kannst du auch bis 140 Wochen-km vertragen. Erst darüber hinaus bekommen einige wenige Läufer(innen) schon orthopädische Probleme. Das ist eine Praxiserfahrung an etwa 160 von mir selbst trainierten Läufer(innen) in allen Altersklassen.