Wie einige von uns wissen, bin ich kein Freund von der Pulsmessung im Training und besonders im Wettkampf. Mit einem Pulser sollte nur jemand arbeiten, der genau die Stärken und Schwächen dieser Art der Leistungsmessung kennt.
In der letzten Woche bekam ich nachfolgende Mail:
"Hallo Peter,
beim Hamburger Marathon lief es bei mir bis km 28 recht gut. Ich bin bis dahin einen Schnitt von 5:00 min/km gelaufen. Danach stieg mein Puls an auf Werte zwischen 171 und 173. Ich machte mir Sorgen und legte an den Versorgungsstellen Gehpausen ein.
Der Puls sank auf 155/157. Nach kurzer Zeit war der Puls wieder auf 171/173. Auf den letzten beiden km war mir das egal und ich habe alles gegeben. Der Puls war im Ziel 185. Hätte ich dem Pulswert weniger Beachtung schenken sollen? Sind Pulswerte von über 170 über einen längeren Zeitraum für mich gefährlich, immerhin gehöre ich dem Jahrgang 1954 an. Welche Rolle spielten dabei die Temperaturen am Sonntag in Hamburg?"
Solche Schreiben bekomme ich mindestens zweimal im Monat. Immer das gleiche Thema. Entweder geht am Ende eines Rennens der Puls in ungeahnte, damit auch als "gefährlich" angesehene Höhen oder das gleiche passiert während der Schlussphase einer Endbeschleunigung im Training.
Immer taucht die Angst auf, dass das Herz geschädigt wird oder man "umkippt". Ist diese Gefahr da? Um diese Frage zu lösen, muss man einfach nur sein Gehirn einschalten.
Was machte denn der Steinzeitmensch, wenn er vor einem wild gewordenen Wildschwein flüchten musste? Mal schnell zwischendurch den Puls fühlen, um zu entscheiden, ob er sich denn nun lieber von den Hauern des Keilers zerfleischen lassen oder besser weiter flüchten sollte.
Natürlich. dieser Gedanke ist so abstrus, dass wir ihn gar nicht erst fassen müssen. Die Natur hat uns so eingerichtet, dass wir auch in höchster Gefahr unter maximalem Einsatz des Herzkreislaufsystem wegrennen oder die Wildsau mit allerletzter Anstrengung mit der Faust erschlagen.
Den zweiten Gedanken, den wir zum Angstabbau fassen könnten, ist die Sicht auf die Läufer(innen) der jüngeren Vergangenheit. Sind die denn etwa langsamer gelaufen, wenn es im Kampf um die Hausmeisterschaft ging und Holger frech 200 m vor dem Ziel vorbei zog?
Da wurde gekämpft und niemand hatte auch nur eine Idee, dass so ein Fight auf den letzten Metern etwa durch zu hohen Puls entschieden würde. Der leider schon verstorbene ehemalige deutsche Marathonmeister Günter Mielke, sagte mir einmal, als ich mich in einem Rennen aus taktischen Gründen etwas zurückhalten wollte: "Was soll das? Du musst rennen bis dir der Kopf platzt." Also mühte ich mich mehr und mein Kopf platzte trotzdem nicht.
Niemand und wirklich gar niemand in den 70-Jahren hat sich jemals Gedanken darüber gemacht, dass ein schneller Herzschlag gefährlich sein könnte. Erst in den 80-ern fing dieser Mist an und von da an ging es bergab mit den Leistungen der Mitteleuropäer und ihrer nordamerikanischen Verwandten.
Die, die ohne Pulser liefen und laufen übernahmen die Herrschaft auf den Langstrecken und wurden von den Deutschen nur noch aus der Ferne gesehen. Der Leistungsniedergang der deutschen Langstreckler ist nicht allein der Bremskunst des Pulsers geschuldet, aber er hat einen großen Teil dazu beigetragen.
Es ist schier unerträglich und auch bedauerlich, dass es Läufer gibt, die Angst haben einen Berg hoch zu laufen, weil dann der Puls zu hoch ist. Bergrunter brechen sie sich dann fast die Beine und morden ihren Knorpel, weil sie den Hang hinabrasen. Als Begründung wird angeführt (halte dich fest): "Wenn ich den Berg langsam runter laufe, dann ist der Puls zu niedrig."
Einige fragen an, ob sie denn gehen sollten, wenn die Herzfrequenz am Berg zu hoch wird? Mehrfach wurde auch schon nachgefragt, was man denn machen solle, wenn der aktuelle den Höchstpuls übersteigt.
Du magst lächeln, aber das ist mein Alltag und kein Artefakt. Es geht weiter damit, dass ein junger Mann kurz über 30 behauptete, dass er absolut nicht mit einem Puls von höher als 151 laufen könne. Wie sich später heraus stellte, brauchte er das bisher auch nicht, denn er hatte noch nie in seinem Leben einen Tempolauf absolviert.
Natürlich wirst du mit dem Kopf schütteln, weil du von so etwas noch nie gehört hast und du könntest den Eindruck bekommen, dass die Mitglieder des Greif Clubs eine Chaostruppe sind. Mitnichten, der weit aus größte Teil sind intelligente und in der Mitte des Lebens stehende Menschen.
Aber wenn nur 1% der 1800 Mitglieder einen schrägen Kopf haben, so lernen wir, was man so alles denken kann, wenn man mit einem Pulser läuft. Nachfolgend noch ein paar Zeilen, die dir helfen den vorhergehenden Text zu vertiefen.
Neues Thema, wie angekündigt die Fortsetzung des Textes aus dem Newsletter vom 31.05.2011:
Leistungseinbruch beim Marathon II
Hans Seyle war ein österreichisch-ungarisch-kanadischer Wissenschaftler und der Vater der Stressforschung. Wir nutzen seine Wortschöpfung "Stress" heute im allgemeinen Sprachgebrauch sehr häufig. Jugendliche haben Stress mit ihren Eltern und Erwachsene müssen zwangsläufig Stress am Arbeitsplatz haben, sonst gelten sie nichts.
Seyle belegte Stress mit Tierversuchen. Er nahm Mäuse, setzte sie in Käfige, versorgte sie gut mit Futter und senkte die Temperatur der Käfige dann aber um 10 Grad. Dazu muss man wissen, dass Mäuse wärme liebende Tiere sind. So war es ihnen in ihren Käfigen dann auch viel zu kalt. Sie befanden sich in einer Temperatur-Stresssituation. Was taten die Mäuse? Sie passten sich den Umweltbedingungen an, bekamen ein dichteres Fell und rannten mehr in den Laufrädern, um sich warm zu halten.
Das ging auch einige Wochen gut, die Mäuse wurden dabei immer fitter. Aber nach weiteren Wochen wurden die Mäuse apathisch und starben kurze Zeit später ausnahmslos. Sie konnten einen Stress über einen gewissen Zeitraum gut vertragen, in dem sie sich den unwirtlichen Umweltbedingungen anpassten. Dazu schüttete ihr Organismus die Stresshormone Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin aus. Sie versetzten den Körper der Mäuse in eine höhere Leistungsbereitschaft.
Aber irgendwann war die Fähigkeit der Mäuse erschöpft sich anzupassen. Das Fell konnte genetisch bedingt nicht mehr länger wachsen und rennen konnten sie auch nicht den ganzen Tag. Auf Dauer erkannte ihr Organismus diese hohe Belastung als krankhaft und drehte den Hormonhahn zu. Die Mäuse konnten sich nun nicht mehr aufwärmen und starben durch den Temperaturstress.
Hätte man bei diesem Versuch die Tiere wieder einige Wochen in wärmeren Bedingungen gehalten, hätten sie später wieder in eine neue Stufe der Anpassung in einen kalten Käfig ausgehalten. Dazu wäre der Organismus auch wieder bereit gewesen leistungsfördernde Stresshormone auszuschütten.
Ich habe mir die Erfahrungen von Hans Seyle zum Prinzip meiner Trainingspläne gemacht. Ein Mensch kann eine gewisse Dauer hohe Trainingsbelastungen ertragen und antwortet auch mit positiven Anpassungserscheinungen. Nur muss man ihn immer wieder aus dem Trainingsstress heraus nehmen, um ihn nicht zu überfordern.
Dies geschieht ,in dem man nach einer harten Trainingsbelastung eine leichtere absolviert und nach einem harten Trainingsblock über mehrere Monate wieder einige Wochen Regeneration nachfolgen lässt. So wird alles genutzt, um positive Fortschritte zu erzielen, ohne dass es zum Dauerstress kommt.
Was hat das nun aber alles mit Franz Gradingers überraschend guten Lauf in Stockholm zu tun? Er befand sich vor dem Marathon in keiner läuferischen Stresssituation. Moderat trainiert, erfahren und motiviert. Als er nun im Rennen seine Chance erkannte dennoch eine gute Zeit zu erzielen, setzte er sich unter eine ganz hohe Stressbelastung (positiver Stress).
Da er frei war von lang andauernden stressigen sportlichen Vorbelastungen, gab ihm das Gehirn die nötigen Leistungshormone und er kam zu einem überraschend guten Resultat. Wobei festzuhalten ist, dass er die zweite Hälfte doch 5 min langsamer lief und die gelaufene Zeit auch deutlich von seiner Bestleistung entfernt war.
Aber was er nun nicht geschrieben hat ist, wie es ihm direkt nach dem Einlauf und den Tagen danach ging. Ganz sicher nicht gut. Er hat seinen Körper überfordert und ihn auch geschädigt. Er war auf diese Belastungen nicht vorbereitet und so etwas hinterlässt immer negative Spuren. Ganz speziell auch im Knorpel-, Muskel und Sehnenbereich. Ich rate daher dringend von solchen Belastungen nach zu geringen Trainingsumfängen ab.
Es scheint nach einigen Wochen alles geheilt zu sein. Doch sind besonders Knorpel auf Dauer geschädigt, weil das nachwachsende Reparaturmaterial minderwertig ist.
Dein Organismus vergisst so etwas nie. Ich möchte von zwei Fällen aus eigener Erfahrung berichten, die so ähnlich wie der von Franz lagen. Beim diesjährigen Hannover-Marathon traf ich einen Läufer nach dem Zieleinlauf, der früher für unseren Verein, die LG Seesen startete. Er hatte damals eine Bestzeit von deutlich unter 2:30 h zu stehen.
Als ich ihn nun fragte, was er denn gelaufen sei, antwortete er: "Ich bin noch gut unter 3 h gekommen. Ich habe eigentlich gar nicht trainiert und habe mich auch nur kurz entschlossen hier zu laufen, aber dafür reicht es noch immer." Ja, es reichte, aber wie dieser Mann aussah, war schon bezeichnend. Blaue Lippe und ein bleiches Gesicht, man sah ihm die völlige Erschöpfung an. Und das mehr als 10 min nach dem Zieleinlauf. Er versuchte die Sicherheitsnadeln seiner Startnummer zu öffnen, was ihm wegen zitternder Hände nicht gelang.
Da sah ich auch, dass seine Beine schlotterten. Er merkte als erfahrener Läufer auch an, dass er sich vor den nächsten Tagen etwas fürchtet, denn er wusste, welche Schmerzen er nun bald haben würde. Schmerzen dieser Art hat man aber nur, wenn etwas zerstört ist.
Wohl gemerkt, diese Symptome haben nicht wenige Marathonläufer(innen). Aber wenn man gut trainiert und im Ziel sofort verpflegt ist, sollten sie sich bei einem guten Trainingszustand 10 min nach dem Zieleinlauf schon deutlich reduziert haben. In dem beschriebenen Fall war das aber nicht so. Die Zentralregierung lies diese Überbelastung zu, weil keine dauerhafte Vorbelastung da war.
Zwei Fälle aus meiner eigenen Erfahrung: Ich begann 1972 zu laufen. Im Frühjahr 1973 trainierte ich ziemlich intensiv und lief im Kölner Königsforst eine Winterserie. Jemand aus meiner Gruppe sagte mir nach Abschluss dieser Serie, dass es Anfang April im besagten Forst einen Marathon gibt. "Den kannst du doch mit laufen!" meinte er.
Lief ich auch, obwohl ich in meinem ganzen bisherigen Leben davor nur ein einziges Mal 30 km gelaufen war. Sonst immer nur bis 20 km und niemals vorher auch nur an einen Marathon gedacht hatte. Gesagt getan, Resultat 2:41 h und 4. Platz in der Gesamtwertung.
Aber was dann kam, war schrecklich. Schon zur Siegerehrung konnte ich nur noch rückwärts die Treppe runter gehen. Ich benötigte vier Wochen, um mich von dieser Belastung zu erholen. Ich war in dieser Zeit so kaputt wie nie zu vor in meinem Leben. Und ich schwor, ab jetzt richtig trainiert in einen Marathon zu gehen.
Aber noch einmal sollte ich das Leid des Untrainierten in einem Wettkampf erleben. 1980 zog ich von Berlin in meine Heimatstadt Seesen zurück. Ich befand mich immer noch in einer schon vierjährigen Trainingspause, welche ich auf ärztlichen Ratschlag auch lebenslang einhalten sollte.
Aber meine alten Kumpel von früher überredeten mich, doch wieder mit dem Laufen anzufangen. Machte ich! 3 (drei) Trainingseinheiten, von denen die längste 8 km war, hatte ich hinter mir, als man mich in einen Wettkampf drängte. "Ach komm, mach doch mit, das schaffst du schon!"
Schaffte ich wirklich und wurde sogar Zweiter in diesem Rennen. Aber was dann kam, war mit das Schrecklichste, was ich in meinem bisherigen Läuferleben erfahren musste. Ich hing fast eine halbe Stunde in unserem Auto und kämpfte verzweifelt gegen meine Übelkeit. Meine Muskeln schmerzten wie verschmähte Liebe und da ich in Bahnspikes gelaufen war, schienen meine Unterschenkelmuskeln aus rohem Fleisch zu bestehen.
Ich schwor abermals und sagte zu meiner mich betreuenden Frau: "Ich kann ja wieder ein bisschen joggen, aber einen Wettkampf laufe ich niemals mehr." An diesen Schwur hielt ich mich dann aber nicht, sondern machte weiter. Brauchte aber fast drei Jahre, bis ich wieder das Niveau von vor der Erkrankung erreichte. Und ein weiteres Jahr, um es zu übertreffen.
Aber untrainiert ging ich in kein Rennen mehr.