In dieser Woche schrieb Dr. Ulrich Strunz einen Text, der mich auf der einen Seite schmunzeln lässt und auch auf der anderen wieder vergangenen Ärger in mir hochkommen lässt. Es ist der Ärger, über meine Marathon-Athletinnen und –Athleten, die einfach zu oft zu schnell starteten und auch zwischendurch allerlei Blödsinn machten.
Dazu möchte ich zu den Zeilen von Uli noch einiges hinzufügen. Es geht aber hier ganz klar nur um Verhalten auf Marathon- und Ultrastrecken und ausdrücklich nicht um den Halbmarathon.
Um es erst vorwegzunehmen: Du kannst jederzeit einen Halbmarathon zu schnell starten oder auch einen Hügel zu schnell hoch laufen, damit wirst du zwar keine optimale Zeit mehr herausholen. Aber einen Hungerast wirst du von solch einem negativen Verhalten nicht bekommen.
Einschränkend muss ich sagen, dass es eventuellerweise bei Einsteigern doch passieren kann. Das habe ich zwar noch nie erlebt, aber wenn man überlegt, könnten „Frischlinge“ auch bei einem Halbmarathon einen Hungerast erleiden.
Zurück zu meinem Ärger über das oft miese taktische Verhalten von Marathonläufern und –läuferinnen, die sich schon auf den ersten fünf Kilometern sinngemäß den Hals abdrehen.
In den frühen Jahren des Berlin-Marathons habe ich einmal eine persönliche Statistik im Rennen aufgestellt. Das Ziel war, die Läufer zu zählen, die mich direkt nach dem Start überholten und im Ziel wieder in meinem Rücken lagen. Zum Verständnis: Damals konnte man sich noch hinstellen, wo man wollte, Blöcke gab es keine.
So stellte sich unsereins natürlich in die erste Reihe und so war es dann auch leicht, jeden Aktiven, der nach dem Startschuss an mir vorbei lief, zu zählen. Das machte ich so lange, bis ich 1000 Läufer vor mir hatte. Und das war weit vor dem 5 Kilometerpunkt.
Alles andere war dann einfach. Ich weiß nicht mehr ganz genau, aber meine Platzierung lag zwischen Platz 70 und 80. D.h., es waren mehr als 900 Läufer in Hinsicht auf meine Person, die zu schnell angegangen sind. Diese kleine Analyse war der Auslöser für ein Programm, welches ich damals schrieb.
Nach und nach wurde diese Marathontaktik immer mehr von unseren Kunden genutzt. Dieses Programm befindet sich heute noch im Netz auf unserer Seite unter diesem Link.
Der Text dazu deckt auch einige Hintergründe auf: Marathon-Taktik-Rechner
"Was ich habe, das habe ich!" Warum wählen denn nun so viele Läufer doch ein zu schnelles Anfangstempo. Das ist eigentlich leicht erklärt: Ein Läufer weiß ganz genau, dass er im Training in der Regel auf der zweiten Hälfte der Distanz langsamer wird.
Diese Erfahrung projiziert er nun in den Wettkampf herein und dort muss er dann aufgrund seiner Erfahrung zwangsläufig schneller angehen, um die gewünschte Endzeit zu erreichen.
Leider unterschätzt er dabei aber die Kraft der Hormone im Wettkampf. Die Stresshormone, hauptsächlich Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol oder kurz die Katecholamine sind die Leistungsanschieber im Rennen.
Wer den Kampf mit Zeit und Gegner sucht, den stattet das Gehirn mit einer gehörigen Menge von Katecholaminen aus. Und das Schöne daran ist, dass der Gehalt dieser Stresshormone im Verlauf des Rennens immer weiter ansteigt.
Gleichzeitig ist unser Organismus so freundlich, uns mit Endorphinen zu versorgen. Diese Hormone regeln Empfindungen wie Schmerz und Hunger, allgemein werden sie als körpereigenes Opium oder Morphin bezeichnet. So kann eine kleine Blase im Training schon größte Schmerzen bereiten und zur Beendigung des Trainings zwingen.
Im Wettkampf kann aber unter Umständen derselbe Mensch selbst mit blutenden Füßen noch ohne große Schmerzen weiter laufen. Endorphine werden auch mitverantwortlich gemacht für die Entstehung einer Euphorie im Rennen. So fliegt dann ein Läufer von Stresshormonen aufgeputscht, von Endorphinen beglückt und schmerzbetäubt dem Ziel entgegen.
Wie du siehst, ist für die schnellere zweite Hälfte im Marathon alles geregelt. Du musst es nur glauben wollen und die Nerven haben, dich am Anfang zurückzuhalten. Dann kannst auch du einmal das Glück erleben, die letzten 21,1 km schneller laufen zu können als die ersten.
Nun das ist die Theorie, aber wie geht man in der Praxis mit dieser Taktik um? Wie viel langsamer muss ich am Anfang laufen? Ab wann kann ich schneller werden? Hole ich denn die "verlorene" Zeit auch wirklich ein? Diese Fragen wirst du dir sicher nicht allein stellen.
Um dir zu helfen, haben wir einen Rechner programmiert, mit dem du deine Marathontaktik sekundengenau ermitteln kannst. Bitte vertraue dich diesem Verfahren an. Heute rennen auch fast alle internationalen Siegläufer im Rahmen dieser Taktik. Du wirst sehen, dass auch du damit zu Recht kommst. Du musst nur den Mut haben, sie anzuwenden.
Eine Anekdote zu diesem Thema möchte ich hier noch hinzufügen. Eine tragikomische Marathonbegebenheit, wie man sie kaum vergessen kann. Der Protagonist ist Alfons, den ich wirklich bewunderte. Leider ist der schon vor einigen Jahren verstorben.
Alfons wog früher an die 150 Kilogramm bei mittlerer Größe. Verständlich war, dass er mit diesem Gewicht nicht zufrieden war. Und so fing er zusammen mit seiner Frau an zu laufen. Ich sehe beide heute noch vor mir, eine menschliche Tonne mit einer zarten Frau.
Mit der Tonne war es bald vorbei, Alfons lief immer schneller, wurde leichter und konnte sich bald sogar an einen Marathon zu wagen. Nach einigen Jahren schaffte er eine 2:56 h über die 42,2 Kilometer. Vorher hatte er sich aber den Amsterdam-Marathon als Wettkampf ausgeschaut, um eine möglichst gute Zeit zu laufen.
Dort in den Niederlanden wurden in den achtziger Jahren mehrere Weltrekorde gelaufen. Nun machte sich Alfons auf dem Weg, Frau und Tochter bildeten die Fangemeinde und der Trainer wollte auch laufen.
Alfons war vor dem Start in Amsterdam unglaublich aufgeregt, und er wollte sich schon 30 Minuten vorher beim Start einsortieren. Als abgekochter Marathonläufer beruhigte ich ihn, und wir stellten uns erst drei Minuten vor dem Start in die erste Reihe.
Und dann stand da ein Trio am Start nebeneinander, welches kaum zu übertreffen war. Es war der damalige 10.000 Meter Olympiasieger Carlos Lopez, daneben der ehemalige Fettsack Alfons und meine Person. Beim Schuss war natürlich Carlos Lopez sofort verschwunden mit seinen Tempomachern.
Und Alfons sah mich wohl als seinen Tempomacher an. Ich sah ihn leider nicht hinter mir und glaubte, es war alles in Ordnung. Alfons wollte eine Zeit zwischen 3:10 und 3:15 h anpeilen. Beim ersten Kilometer gab es eine Zeitangabe und ich hörte hinter mir plötzlich: "Oh, oh, oh, 3:20, so schnell bin ich 1000 Meter noch nie gelaufen!"
Wahrhaftig war er direkt hinter mir. Er bekam dann ein paar einordnende Worte von mir und so blieb er zurück. Mir erschien das ganze unfassbar und ich nahm an, dass Alfons diesen Marathon nicht durchlaufen können würde.
So wartete ich schon lange im Zieleinlauf auf ihn und packte aber bald meine Sachen, um zum Auto zu gehen. In diesem Moment kreuzte in dem Gewusel, von zwei Sanitätern geschoben, eine männliche Person auf einer Transportliege meinen Weg. Das war nicht unerwartet unser Alfons. Er war doch durchgelaufen und war im Ziel zusammengebrochen.
Auf der Transportliege zog Alfons abermals die Augen auf sich, indem er ohne Unterlass schrie: „Ich sterbe, ich sterbe,...“ Natürlich überlebte er und kam auch wieder auf die Beine. Aber leider war das Unglück von Alfons an diesem Tag noch nicht zu Ende. Als er sich zu seinem PKW begab, war dieser aufgebrochen und das Autoradio entwendet.
Alfons zog sich keine bleibenden Schäden zu. Aber in dem nachfolgenden Zeitraum wurde er von unserer Gemeinschaft immer einmal wieder „auf den Arm genommen“ mit den Worten: „Alfons, gehe im Marathon nicht so schnell an, denn dann klauen sie dir wieder das Autoradio!“