Kannst du dir vorstellen, was mich als Läufer am meisten geärgert hat? Du denkst jetzt vielleicht an Trainingsfaulheit oder schlechte Wettkampfleistungen. Nein, es war auf gut Deutsch das Dehnen, von anderen auch als Gymnastik bezeichnet.
Beim Eintritt in die Laufszene 1972 gab es schon Streit darüber, wie und wann man überhaupt Gymnastik benötigte. Vor meiner Laufzeit war ich Handballer. Dort wurde über so etwas gar nicht diskutiert, denn bei zwei Stunden wöchentlichem Training bleibt so etwas so oder so hinten dran.
Meine Spielfähigkeiten waren mangelhaft, die Sprungfähigkeit und Kraft aber hervorragend und nach Gelenkigkeit wurde nicht gefragt. Später beim SCC Berlin in der Leichtathletikabteilung wurde auch kaum auf das Dehnen geachtet.
So legte dann unsereins die Schwerpunkte des Nachmachens auf die Leute, die möglichst schnell rennen konnten. Da die meisten auch die Gymnastik vernachlässigten, war ich auch nicht besonders aktiv in diesem Bereich.
Später als Trainer wurde ich vom Saulus zum Paulus. Da wir eine große Anzahl von Jugendlichen in unserer Gruppe hatten, wurde ganz besonders auf Beweglichkeit geschult.
Und dann ging der Ärger los! Es gab jederzeit Läufer und Läuferinnen, die gar niemals dehnten. Einige waren mit halbem Herzen dabei und andere waren kaum zu übertreffen.
Es war nicht überraschend, dass die steifen Böcke auch beim Hinzuziehen von Gymnastik immer noch steif blieben, und die Elastischen verharrten ebenso in ihrer Beweglichkeit. Da kam mir so langsam der Gedanke, ob denn diese ganze Sache irgendetwas bringen würde.
Vor einigen Jahren habe ich schon einmal über dieses Thema geschrieben:
Die Männer waren fast immer steif, die Frauen weniger. Ich glaube, dass ich in meinem Heimatverein und innerhalb unserer Trainingsurlaube schon an die tausend Läuferinnen und Läufer trainiert habe. Und ein großer Teil dieser Trainierenden war mit einer mangelnden Gelenkbeweglichkeit ausgestattet.
Ich kann mich nur an einige wenige junge männliche Mittelsstreckenläufer erinnern, bei denen meiner Meinung nach die Gelenkigkeit ausreichend war. Bei den älteren Läufern war es fast ausnahmslos so, dass deren Gliedersteifheit schon fast an ein Stahlgerüst grenzte. Da nimmt sich der Schreiber dieser Zeilen nicht aus.
Natürlich machen wir alle unsere Dehnübungen und wenn ich mit jungen, talentierten Leuten gearbeitet habe, dann legte ich auch sehr großen Wert auf Gelenkigkeit, um damit die Laufökonomie zu verbessern. So war die Lehrmeinung damals und heute. Aber ich wurde zu keinem Gymnastikfreak, wie so viele andere Trainer. Wir ließen das Dehnen immer locker angehen.
Heute frage ich mich warum? Jetzt, nach neueren Studien wird mir klar, warum. Denn es war offensichtlich: Die steifsten "Böcke" rannten oft am schnellsten und die "Gymnastik-Weltmeister" fielen immer wieder durch mangelnde Ausdauer auf.
Die Annahme war Konsens in unserer Trainingsgruppe, dass die "Gymnastik-Weltmeister" nur so lange dehnten, weil sie sich vor dem Lauftraining drücken wollten. Und aus diesem Drückertum heraus, sollte die mangelnde Ausdauer resultieren.
So war das Prädikat "Gymnastik-Weltmeister" gleichzeitig ein Synonym für Weichei und Schlafffuß. Wenn man aber jetzt neue Forschungen betrachtet, so haben wir alle diesen Menschen Unrecht getan. Ihre sehr große körperliche Flexibilität scheint für die Laufökonomie eher hinderlich zu sein.
Die englischen Autoren Mick Wilkinson und Alun Williams schreiben in einem Artikel, veröffentlicht bei sport-und-training.de:
"Jüngere Studien legten nahe, dass die Flexibilität im Rumpf und den niederen Gliedmaßen umgekehrt mit der Laufökonomie zusammenhängen. Z. B. prüften Gleim und sein Mitarbeiterstab 100 männliche und weibliche Personen über eine Bandbreite an Laufgeschwindigkeiten auf dem Laufband (0,9–3,13 m pro Sekunde). Sie verwandten die Sauerstoffeinnahme als Maß für die Laufökonomie und verwandten eine Reihe von 11 Tests, um die Flexibilität in Rumpf und Gliedmaßen festzulegen.
Die Analyse der Daten ergab, dass Personen, die eine Unbeweglichkeit im Rumpf aufwiesen (was die Spannweite des Beines von der Hüft- und Rumpfdrehung begrenzte) bei jeder Testgeschwindigkeit die ökonomischsten waren.
In einer anderen Studie folgten die Forscher einer ähnlichen Methode bei 19 männlichen Läufern mit Zeiten von weniger als 40 Minuten auf 10 km. Insgesamt wurden 9 Messungen der Flexibilität des Rumpfes und der niederen Gliedmaßen vorgenommen und die Laufökonomie auf dem Laufband wurde bei einer Geschwindigkeit von 4,13 m/sec festgesetzt.
Wie bei der vorhergehenden Studie auch, fanden die Forscher heraus, dass eine verringerte Flexibilität (in diesem Fall in der Hüfte, was die externe Drehung des Beines begrenzt), mit erheblich verringertem Energieaufwand des Laufens – d. h. erhöhter Laufökonomie verbunden war."
Die Laufökonomie kann bis zu 30% der Laufleistung ausmachen. Aus der gemessenen maximalen Sauerstoffaufnahme sollten bei gleichen körperlichen Voraussetzungen auch ähnliche Wettkampfleistungen herauskommen. Aber schon seit langem weiß man, dass dies nicht so ist. Es gibt erhebliche Leistungsunterschiede bei Läufer(innen) mit gleicher maximaler Sauerstoffaufnahme.
Die Laufökonomie ist also ein Hauptfaktor für die Leistung. Darum wird klassisch ja auch versucht, sie durch Koordinations- und Flexibilitätstraining zu verbessern. Einige Trainer sind von dieser Art des Trainings geradezu besessen und treiben es bis zum Exzess mit diesen Übungen.
Auch wenn hier gezeigt wird, dass mindere Flexibilität der Laufökonomie eher zuträglich ist, so kann daraus aber in keinem Fall geschlossen werden, dass eine verbesserte Koordination nun auch negativ sein könnte.
Das ist auf keinen Fall so, denn auch hier kann ich aus der Praxis berichten: Gute koordinative Möglichkeiten gehen auch fast ausnahmslos mit überdurchschnittlichen Laufleistungen einher. Aber ich will nicht verschweigen, dass auch die so genannten "Bewegungsidioten" manchmal sehr schnell laufen können.
Die Frage, die wir uns alle stellen müssen, ist die, warum nun leidlich Unflexible oft schneller laufen können als die Beweglichen. Die vorher schon zitierten Autoren meinen dazu:
"Craib und seine Kollegen schlugen vor, dass eine Inflexibilität des Knöchels bei der Dorsiflexion den Energieaufwand verringern könnte, indem sie die Speicherung und Rückfuhr der elastischen Energie in Achillessehne und Wadenmuskeln verbessert.
Eine ähnliche Erklärung hinsichtlich der unflexiblen hinteren Oberschenkel-Muskulatur wurde von Jones abgegeben. Ein Mechanismus, der die Rückgabe der elastischen Energie einbeziehen würde, könnte theoretisch die aktiven Muskelkontraktionen verringern, die erforderlich sind, um den Läufer vorwärts zu bringen und damit den Energieaufwand verringern."
Das, was wir uns alle von den Schuhen wünschen und niemals ausreichend bekommen können, leisten unsere Muskeln und Sehnen. Sie speichern beim Aufsprung die Kraft und geben sie beim Absprung wieder ab. Diese Strukturen zusammen können mehrere Meter lang sein. Eine Mittelsohle im Schuh ist aber gerade einmal einen guten cm dick. Da kann einfach nicht viel heraus kommen.
Weiter zitiert: "Vorhergehende Studien schlugen vor, dass ein elastischer Rückstoß der Muskeln und Sehnen zu 25–40% der Energie beitragen kann, die für nachfolgende Bewegungen in einem maximal ausgedehnten Muskel notwendig ist.
Die Annahme liegt nahe, dass Inflexibilität um die Knöchelgelenke zu einer größeren relativen Ausdehnung der festen Muskeln und Sehnen führen würde. Dadurch würde mehr elastische Energie für den nachfolgenden Rückstoß gespeichert und die aktive Muskelarbeit wäre verringert.
Muskoloskeletale Unbeweglichkeit kann auch die vorteilhaften Effekte der begrenzten Hüft-/Rumpf-Flexibilität erklären, die sich in den oben erwähnten Studien gezeigt hat. Die begrenzte externe Hüftumdrehung konnte die Laufökonomie erhöhen, indem sie die Beckenregion zum Zeitpunkt der Berührung des Fußes mit dem Boden stabilisierte. Da das Laufen hauptsächlich in einer Vorwärtsbewegung erfolgt, ist Rotationsbewegung potentielle Energieverschwendung, da sie nicht zur Vorwärtsbewegung beiträgt.
Vermutlich müssen Drehbewegungen bei den flexiblen Läufern durch aktive Muskelkontraktionen neutralisiert werden, wodurch sie weniger ökonomisch sind, als Läufer mit den unbeweglicheren Rumpf- und Hüftmuskeln. Ähnlich kann eine erhöhte relative Ausdehnung der festen Kniesehnen beim Vorwärtsschwingen des Beines elastische Energie speichern, die verwendet werden kann, um den Körper über die Gliedmaßen zu ziehen und den Läufer anzutreiben, wodurch aktive Muskelkontraktionen eingespart werden. Die Forschung liefert reichhaltige Unterstützung für diese Annahmen, obgleich der Umfang der Rumpfdrehung und Hüftbeugung während der Testläufe in keiner der Studien wirklich gemessen wurde."
Diese Forschungsresultate sollten aber kein Freibrief sein, nun überhaupt keine Gymnastik mehr zu machen. Es gibt Forschungen, die belegen, dass der Verlust der läuferischen Leistungsfähigkeit im hohen Maße mit der Verringerung der Beweglichkeit zusammen hängt.
Ebenso hat eine stark verkürzte Muskulatur Verletzungen zur Folge und dies in nicht geringem Ausmaß. Ich habe in meinem Leben schon unzählige Läufer getroffen, die berichteten, dass sie niemals in ihrem Leben gedehnt haben, dann aber oberhalb der 40 Jahre plötzlich eine Verletzung nach der anderen bekamen. Die zum Teil ganz schnell chronisch wurde.
Was müssen wir aufgrund dieser neuen Forschungsresultate in der Praxis ändern? Eigentlich gar nichts! Die meisten Läufer(innen) betreiben ein mäßiges Flexibilitätstraining, welches auch unbedingt beibehalten werden sollte. Nur die "Gymnastik-Weltmeister" sollten sich an ihrer guten Beweglichkeit erfreuen, aber nicht versuchen sie weiter auszubauen.
Die vorhergehenden Zeilen sind schon ein paar Jahre alt. In der Zwischenzeit gibt es einige weitere Forschungsergebnisse, die sehr interessant sind. Darauf werde ich in der nächsten Woche noch einmal eingehen.