Die Gesichter der Marathonnovizen zeigten unterschiedliche Reaktionen: Sie schwankten zwischen Ungläubigkeit und ablehnenden Spott. Warum? Eine Lauftreffgruppe kam an unseren Marathon-Messestand und drei davon wollten es zum ersten Mal wagen die 42,2 km in Angriff zu nehmen.
Als diese mich dann fragten nach Anfangstempo, Ernährungsnötigkeiten und dem üblichen "Mann mit dem Hammer", antwortete ich ihnen: "Macht euch nicht so große Sorgen, ruhig angehen lassen und dann entwickelt sich alles von allein, wenn ihr gut trainiert seit. Der erste Marathon ist der Leichteste."
Nein, das wollten sie nicht glauben. Hatten sie doch die Ohren voll von den Horrormärchen ihrer Mitläufer, die von Totalzuammenbruch, Quadratmeter großen Blasen, messernden Seitenstechen, Ruhepausen auf den Bordsteinen und leeren Verpflegungsstellen erzählten.
Die Angst stand ihnen im Gesicht geschrieben. Und aus dem Hintergrund ihrer Gruppe höhnte noch eine Stimme: "Der Leichteste? Niemals, ich bin ab km 30 gewandert, aber bin durch gekommen. Und das soll einfach sein?" "Wie viel bist du schon gelaufen?" "Nur den Einen, der reichte mir!"
Nun denn. Dieser gute Mann konnte sich kein Urteil erlauben, denn er hatte sich nicht an ein zweites 42,2 km-Rennen mehr heran gewagt. Zudem ist er mit 12,2 km Wanderschaft im Rennen auch noch kein Marathonläufer, sondern nur ein Marathonversucher. Denn es heißt: Marathonlauf und nicht Marathongang.
Da werden jetzt wieder einige, denen es ähnlich erging, ganz böse mit mir sein. Aber da gibt es keine Gnade, für mich ist nur jemand ein Marathonläufer(in), wenn er oder sie die Strecke auch durch gelaufen ist.
Hattest du doch auch so von mir erwartet, oder? Aber das sind Prinzipien, von denen ich nicht abweiche. Manchmal fühle ich mich als der letzte Kämpfer gegen Marathonwanderer, -sammler und Verpflegungsstellen-Plünderer. Alle diese Personen sind ehrenwerte Leute, aber die sollen ihre eigenen "Rennen" laufen und nicht denen die Ehre nehmen, die nun wirklich die 42,2 km ernsthaft durch gelaufen sind.
Natürlich hat man es auch geschafft, wenn man einmal eine kurze Gehpause einlegen muss, um sich kräftemäßig wieder zu sammeln. Auch das Gehen am Berg ist und bleibt akzeptiert. Denn sonst wären die "Jungfrau-Marathon-Läufer" und "Swiss-Alpin-Teilnehmer" auch keine akzeptierten Marathoner. Denn auf diesen Kursen kann kaum jemand nur mit Laufen in das Ziel kommen.
Du wirst vielleicht denken: "Was macht es denn, sollen diese Leute doch laufen wie sie wollen." Ja, wir sollten Toleranz walten lassen. Aber zu viel Toleranz macht uns unseren Sport kaputt. Diese ganzen Schlaffgeigen ohne Ehrgeiz und -gefühl schädigen die ganzen Veranstaltungen. Die Teilnehmerzahlen bei den Marathons werden immer größer und die Zeiten immer schlechter.
Natürlich lieben die Fach- und Onlinezeitschriften diese Menschen. Die lesen noch begierig jede Woche wie man die Schuhe richtig schnürt, unfallfrei aus dem Trinkbecher schluckt und im Feld Winde lautlos aus dem Körper entlässt. Das sind die Leute, die noch Umsatz bringen, sich von Werbung beeindrucken lassen, an Schuhtest und Pulser glauben.
Sollen wir das weiter so hinnehmen? Ist eine Durchschnittsleistung bei den Männern von über 4 h tolerabel? Wenn ja, dann sind wir bald bei 5 Stunden und dicht dahinter kommt schon die Gehgeschwindigkeit. Karneval und Wein-Saufveranstaltungen auf den 42,2 km sind mir ein Gräuel. Wo soll das enden? Tritt bald vor dem Start noch jemand in die Bütt?
Natürlich wird es immer ein Leistungsgefälle in einem Rennen geben. Nicht jeder hat genug Zeit zum Training oder es stimmen einfach die körperlichen Voraussetzungen nicht. Darum beuge ich auch mein Haupt vor jedem, der einen Marathon durchgelaufen ist. Er gehört zur sportlichen Elite.
Aber ich will nicht hinnehmen, dass die Schnellen immer langsamer und die Langsamen noch langsamer werden. Das ganze Läufervolk rast ungebremst den Leistungsberg herunter. Den Bürohelden, die nur "durchkommen" wollen ist das egal. Mir aber nicht, mir schwillt der Hals, wenn ich diese Publikumswinker sehe, manche halten manchmal sogar ein Schwätzchen am Rand. Das ist Kaffeekränzchen und kein Wettkampf.
Wenn das so weiter geht, gründe ich trotz meines vergleichsweise hohen Alters noch eine Elite-Marathon-Vereinigung. Dann gehen wir wieder in die Felder. Aber wir nehmen nur die mit, die sich auch qualifizieren. Ich denke, Elite hört bei Zeiten über 3:30 h bei den Herren auf. Oder sollten wir die Grenze gleich auf 3:00 h bei den Männern und 3:15 bei den Damen setzen? Alles natürlich mit Altersklassen-Bonus. Das müssen wir diskutieren.
Viele Teilnehmer hätten wir dann nicht, aber auch weniger Aufwand. In Feld und Wald brauchen wir keine großen Absperrmaßnahmen, keine Tribünen und auch kein Messegelände, wir gehen einfach wieder in die Turnhallen. Ein Kurs und eine Veranstaltungsform wie in Kandel wäre das richtige Muster.
Und in dem wir die Schleichjogger nur mit einer Qualifikationszeit in das Eliterennen lassen, werden die sich dann endlich einmal das gespaltene Ding aufreißen, um auch dabei zu sein. Und das hebt das Niveau, welches wiederum das Ziel dieser ganzen Sache ist.
Schon wenn es dann ein T-Shirt und ein Trikot gibt, welches nur die Elite-Marathonläufer tragen dürfen, gibt es einen Run auf dieses Rennen und damit auch gleich einen allgemeinen Leistungssprung.
Hatten wir alles schon einmal, als die Qualifikationszeit bei den Männern für die Deutsche Meisterschaft noch bei 2:45 h lag. Das war ein Ziel, für das viele kämpfen mussten. Aber wer es wirklich wollte, schaffte es auch. Und damit war er wer! Der DLV hat sich von dieser Quali aus Geschäftsgründen getrennt.
Die Veranstalter brauchen große Teilnehmerzahlen und die werden natürlich durch eine Quali von 2:45 h bei den Meisterschaftsläufern nicht gerade stark erhöht. Der Verband braucht aber die Veranstalter, denn sie sind ihm ein Dienstleister innerhalb der Ausrichtung der Meisterschaften.
Aber die letzten Zeilen sind ja eigentlich nicht das Thema dieses Newsletters, die Gedanken kamen mir nur, als ich über die Gesamtsituation des Marathonlaufs nachdachte. Darum zurück zu meinem ersten Marathon. Auch ich hatte meinen Jungfernlauf und zwar 1972 im Königsforst bei Bensberg.
Ohne jede gezielte Vorbereitung bin ich dort angetreten, keine Ahnung von irgend etwas. Ich wußte nur, dass ich 42 km lang laufen musste. Ein Jahr hatte ich damals gerade trainiert, chaotisch, aber sehr intensiv. Auf die Nebenschauplätze wie Trinken und Essen verschwendete ich keinen Blick. Ebenso machte ich mir nicht die geringsten Gedanken über das zu laufende Tempo.
Startschuss und ab ging es, alles nach Körpergefühl. Im Ziel war ich fertig wie ein Plüschhase nach dem Kindergeburtstag. 2:41 h hielt ich für eine äußerst mäßige Zeit. Andere nicht und die flüsterten mir, dass ich im nächsten Rennen gleich auf eine Zeit von unter 2:30 h angehen sollte.
Und das tat ich dann auch - immer wieder. Mäßige Rennen, gefolgt von Desastern und kleinen Fortschritten. Jedes Rennen war schwerer als das erste, was ich völlig unbekümmert angegangen war. Das Schneller sein wollen, zerstörte meine Rennen. Ich stellte Willen über Körpergefühl und scheiterte oft.
Du solltest aber jetzt nicht erwarten, dass mich einzig meine eigene Erfahrung zu dem Titel "Der erste Marathon ist der leichteste" gebracht hat. Nein, in meiner langen Zeit als Trainer konnte ich oft genug erleben, wie immer nach guten Jungfernläufen, die Messlatten für die kommenden Rennen zu hoch gelegt wurden und ein Scheitern vorprogrammiert war.
Das war natürlich nicht immer so, oft kamen die Läufer trotzdem gut durch, aber der Tenor über das Gefühl im zweiten Rennen war fast immer gleich: "Mann, musste ich mich quälen!" Zu diesem Thema gibt es auch eine wissenschaftliche Untersuchung. Die nachfolgend in Auszügen aus "Bild der Wissenschaften", 20.04.2010 aufgeführt wird.
Hier zeigt es sich, dass zwischen Männern und Frauen doch deutliche Unterschiede in der Motivation zu einem Marathon bestehen:
Wettkampflaune und Wohlgefühl treiben Laufbegeisterte an den Start!
Für den Antritt bei ihrem ersten Marathonlauf motivieren sich Frauen und Männer unterschiedlich: Während Männer primär persönliche Leistungsziele und Wettbewerb in den Vordergrund stellen, begründen Frauen ihre Teilnahme mit gesteigertem Wohlgefühl.
Das haben englische Psychologen herausgefunden, die 906 Ausdauersportlerinnen und -sportler vor und nach ihrem ersten Marathonlauf befragt haben. Trotz der geschlechtsspezifischen Beweggründe für einen Antritt sind sich Frauen und Männer einig, warum sie mit dem Extremsport weitermachen: Rund 80 Prozent wollen beim zweiten Lauf ihre Zeit verbessern. Ihre Ergebnisse stellen die Wissenschaftler um Elizabeth Loughren von der University of Birmingham auf der Jahreskonferenz der British Psychological Society vor.
Die Wissenschaftler wollten wissen, warum Menschen eine Distanz von 42,195 Kilometer in hohem Tempo zurücklegen und Kreislauf sowie Magen-Darm-Trakt und Nieren hohen Belastungen aussetzen. Für die Befragung konnten sie 507 Frauen und 399 Männer im Alter zwischen 18 und 72 Jahren gewinnen. Ausgewertet wurden die Antworten, um die Motivation für den ersten Marathonlauf herauszufinden, die Intentionen für eine Wiederholung und geschlechtsspezifische Unterschiede in der Argumentation.
Am häufigsten wurden drei Begründungen für die Teilnahme an dem kräftezehrenden Lauf genannt: Die Läuferinnen und Läufer wollten das Rennen in einer bestimmten Zeit beenden, Selbstachtung und Stolz aufbauen sowie die Gesundheit verbessern.Deutliche Unterschiede entdeckten die Wissenschaftler aber in der Argumentation bei Frau und Mann: So wollten Männer primär unter Konkurrenzgesichtspunkten sehen, "wie weit ich in der Rangliste nach vorne komme", Frauen nannten eher psychologische Antriebe wie die Aufhellung der Stimmung, die Suche nach Lebenssinn, den Einklang mit der Welt – und die Kontrolle des Gewichts.
"Wir haben die Teilnehmer auch gefragt, ob sie einen weiteren Marathon-Lauf in Erwägung ziehen. 70 Prozent der Frauen sowie 79 Prozent der Männer haben die Absicht, in den nächsten zwölf Monaten wieder anzutreten", berichtet Loughren.
Auch hier wurden die Begründungen ermittelt: Rund drei Viertel wollen ihre Laufzeit übertreffen, einen Urlaub mit dem Wettkampf verbinden und einfach nur das Training verbessern. Während über 85 Prozent der Männer sich bei der zweiten Runde selbst übertreffen wollen, sind es bei den Frauen 79 Prozent.
Aus Sicht von Medizinern ist die Argumentation, durch Marathonlaufen die Gesundheit zu verbessern, oft vorgeschoben: Bei einer Umfrage unter 1000 Marathonis beim Bonn-Marathon 2009 hatten fast zwei Drittel der Läufer angegeben, vor dem Start Schmerzmittel zu nehmen. Die Folgen sind fatal: Die extreme Anstrengung verursacht Belastungen wie Blut im Urin, Übelkeit, Erbrechen und akute Störungen der Nierenfunktionen – und die Wirkstoffe verstärken diese Symptome noch.
Elizabeth Loughren (University of Birmingham) et al.: Jahreskonferenz der British Psychological Society
Auch bei dieser Untersuchung zeigt sich klar, dass von einem ganz großen Teil der Marathonbeginner versucht wird, im zweiten Wettkampf über diese Distanz die Zeit des ersten zu verbessern.
Was solltest du nun aus diesen Erfahrungen mitnehmen in die Praxis? Mein Rat: Gehe auch deinen zweiten Marathon locker an, setzte deine Ziel auf den ersten 25 km nicht zu hoch an. Ein ruhiger Beginn ist schon die halbe Miete. Wenn du noch Kraft hast, dann kannst du auf den letzten 17 km immer noch deine Bestzeit pulverisieren.
Denke an das Unterdistanz-Paradoxum. Angenommen du bist im ersten Rennen eine 3:32 h gelaufen. Im Laufe des Jahres entwickelst du dich durch ein gutes Training auf den Unterdistanzen sehr schnell. Im Halbmarathon kannst du schon eine 1:24:30 laufen. Das reicht bei Erfahrenen meist, um an eine Zeit von unter 3 h zu kommen.
Leider scheitern aber doch immer wieder Läufer(innen) an solch einem großen gewollten Sprung. Es ist wahrscheinlich das Gehirn, welches aus Schutzgründen diesen Sprung nicht zulässt.
Also: Auch wenn es dein großer Traum ist den großen Sprung zu wagen, halte dich im Zaun und nähere dich deinem Ziel in kleinen Schritten. Und ich versichere dir, 3 - 4 kleine Schritte mit einem jeweiligen persönlichen Rekord machen dich glücklicher, als der große Sprung, den du später eventuell niemals wiederholen kannst. Denke an Bob Beamon und Christoph Herle.