Hat dich der Titel dieses Textes irritiert? Vielleicht ja, denn in unserer Gruppierung herrscht oft die Meinung vor, dass wir nicht nur besonders leistungs- und gesundheitsorientiert sind, sondern uns auch besonders rational verhalten. Da ich nun schon über 40 Jahre in dieser Gesellschaft der Läufer und Läuferinnen lebe und arbeite, möchte ich dir aufzeigen, dass wir auch nicht besser sind als alle anderen.
Da nimmt sich der Schreiber dieser Zeilen nicht aus. Es gibt auch in meinem Leben Fehlleistungen, an die ich mich aber nicht gerne erinnere. Aber sei es so, denn was man früher einmal falsch gemacht hat, ist heute nicht mehr zu reparieren. Aber gerne betrachten wir die Missetaten der anderen und lernen davon. Fangen wir mal an:
Du kennst ganz sicher in deiner Umgebung auch Läufer, die bei anstehenden Wettkämpfen ständig kurz vor dem Rennen ein Zipperlein haben und so nicht starten können. Es ist schier unglaublich, was sich manche so einfallen lassen, um den Druck des Wettkampfs zu entgehen.
Eigentlich ist das Ganze banal, wir kennen unsere Pappenheimer ja schon länger. Rücken, Grippe, Kopfschmerzen und vieles mehr lassen sich einige einfallen, um besonders bei einem Marathon nicht starten zu müssen.
Eine weitere Gruppe, die wir alle kennen, sind die Trainingsverrückten. Die immer eigene Ideen haben, scheinbar völligen Blödsinn trainieren und dennoch behaupten, dass sie die einzigen sind, die den wahren Weg zum Erfolg gefunden haben.
Vor langen Jahren hatten wir hier bei uns einen guten Läufer, der praktisch vor jedem Marathon erkrankte. Natürlich bekamen seine Mitläufer diese ganze Sache mit der Zeit mit und er wurde kräftig gehänselt. Vor einem anstehenden 42,2 Kilometer-Wettkampf schwor er uns allen, dass er nun dieses Rennen mit aller Kraft und Gesundheit bestreiten würde. Wir waren gespannt. Tatsächlich in der letzten Woche vor der großen Tat keine Bauchschmerzen, Muskelkater und Rückenprobleme.
Es war unfassbar, sollte er bis zum Start wirklich gesund bleiben? Am Sonnabendmorgen, einen Tag vor dem Rennen klingelt das Telefon: "So ein Mist, ich kann morgen nicht laufen, ich habe schweres Zahnfleischbluten!" Als ich ihn auslachte, stand er eine Viertelstunde später vor der Tür, um mir seine leicht gerötete Zahnbürste zu zeigen. Es war schwer einem Lachanfall zu entgehen. Wie auch immer, der Gute lief seinen Marathon nicht.
Läufer und Läuferinnen haben so ihre eigenen Ideen, um sich das Leben schwer zu machen. Ein Jugendlicher aus unserem Verein qualifizierte sich für die Europameisterschaft der Junioren in Birmingham/England für das Rennen über 20 Kilometer (nicht HM!).
Da meine Zeit knapp war, flog ich erst einen Tag vor dem Rennen zum Wettkampfort. So sah ich den Athleten erst kurz vor dem Start und als ich ihn fragte, was er dort im Rahmen der Junioren Nationalmannschaft in den letzten Tagen trainiert hatte, sagte er: "Gestern habe ich 30 mal 100 Meter gemacht, damit ich endlich mal etwas schneller werde."
Auf die Frage hin, ob er denn das in der Gemeinschaft mit den anderen Startern trainiert habe, antwortete er: "Das habe ich heimlich gemacht, damit es kein anderer sieht."
Dem Trainer entgleisten die Gesichtszüge, ich war fassungslos. Denn so ein Programm war völlig neu für ihn. Das Resultat war, dass der Gute bei zehn Kilometer schon 50 Sekunden Rückstand auf das Feld hatte und schließlich als Vorletzter in das Ziel kam.
Das war eine Enttäuschung, die kaum zu beschreiben war. Es war nicht nur für den Trainer so, sondern auch für den Athleten. Er strich die Segel und hörte auf mit dem Leistungstraining.
Selbst heute ist mir nicht klar, warum dieser junge Mann sich derart verhalten hat. Er war alles andere als ein Mittelstreckler und muss einfach gewusst haben, dass so eine Einheit negative Spuren in seinem Körper hinterlassen würde. Vielleicht hatte er auch einfach Angst vor diesem Rennen und suchte einen Ausweg, um sich bei einem schlechten Resultat entschuldigen zu können. Den Offiziellen vom DLV berichtete er, er habe Rückenschmerzen gehabt.
Mit Jugendlichen in diesem Alter hat man immer Probleme. Man ist nicht nur Trainer, sondern auch Seelsorger, Vermittler zu Eltern, Lehrern, Freund oder Freundin. Auch gibt es innerhalb eines Teams von noch nicht erwachsenen Menschen ständig Auseinandersetzungen unter Gleichaltrigen. Freundschaften entstehen und vergehen.
Dabei kommt mir ein Fall bei einer Qualifikation für eine internationale Meisterschaft in den Sinn. Ich weiß heute nicht mehr, welches diese war. Aber ich sehe ganz genau vor meinen Augen, was in diesem Qualifikationswettkampf geschah.
15 Kilometer auf der Straße sollten entscheiden, wer nun bei diesen Spielen dabei sein dürfte. Es waren wohl sechs Teilnehmer, die sich vorqualifiziert hatten. Dabei zwei Jungen, K. und E. aus unserem Verein, der LG Seesen.
Nach zehn Kilometer konnten sich beide von den anderen absetzen. K. war deutlich stärker, aber F. war am Rande seiner Möglichkeiten und hatte nichts mehr zuzusetzen. Der deutlich stärkere redete nun auf seinen Sportfreund ein, weiter mit ihm mitzulaufen. Er nahm das Tempo etwas zurück und gab ihm Windschatten.
Er schleppte seinen Mannschaftskameraden, ihn immer weiter anfeuernd, schier in das Ziel. Dieser setzte 20 Meter vor dem Zielstrich ganz überraschend zu einem kurzen Spurt an und erreichte als erster das Ziel.
Wie schon gesagt, ich erinnere mich nicht mehr genau, ob schließlich beide oder nur einer zu dieser Meisterschaft mitgenommen wurde. Das eigentliche Resultat war, dass sie beide zukünftig kein Wort mehr miteinander wechselten.
Über die Eifersüchteleien der Damen aus der damaligen LG Seesen möchte ich an dieser Stelle nicht schreiben. Zwischen denen herrschte ein permanenter Zickenguerillakrieg. Du wirst dich Fragen warum Guerilla.
Die Antwort ist: Diese Kampfhandlungen fanden nur im Hintergrund statt und alle behaupteten, dass sie bestens miteinander auskamen. Darum schweige ich jetzt auch an dieser Stelle, denn in mir lauert immer noch eine permanente Angst, dass mir irgendwann das eine oder andere Auge ausgekratzt wird.
Bei den Männern war das natürlich ähnlich, aber die trugen die Kämpfe offener aus. Bei diesem Thema kommen mir wieder zwei Jugendliche in den Sinn, die unseren ganzen Verein für einige Zeit in Unruhe versetzt hatten.
Die Hauptfigur war M., ein hochbegabter Jugendlicher. Dieser gewann, obwohl körperlich unterentwickelt, in unserer Region alles. Nun wollte mit V. ein zweiter Jugendlicher auch zu unserem Training kommen, dieser ging mit M. in eine Klasse. M. protestierte heftig: "Mit dem rede ich kein Wort. Er hat einmal etwas gemacht, was "unmöglich" ist". Und M. setzte mir auch gleich ein Junktim: "Wenn der hier in den Verein kommt, trete ich sofort aus."
Da kam er bei mir an die richtige Adresse, die nachfolgende Kopfwäsche war ziemlich rau. Er zog beleidigt von dannen und V. lief beim nächsten Training mit. Unser Jungstar hatte wohl sein Junktim vergessen, war auch beim Training, würdigte den Neuankömmling aber keines Blickes. Das ging ein paar Tage so und plötzlich kamen beide fast Händchen haltend, lächelnd zum Training und waren von diesem Tag an ein Herz und eine Seele.
Das ganze ging aber dennoch von der sportlichen Seite aus gesehen tragisch aus. Beide Freunde waren Spätentwickler und im Laufe der Zeit gewann M. fast kein Rennen mehr, weil die Konkurrenz im Gegensatz zu ihm schon mit der Pubertät durch war.
Nun trugen die beiden immer das Wort von den Mutanten im Mund, gegen die sie laufen müssten und dem Trainer, der das nicht verhindern konnte. Jede Einheit wurde kritisiert, alles was unser Verein machte war falsch und der Trainer beschränkt. Der riet den beiden, sich einen anderen Trainer zu suchen.
Die Folge war, dass beide abrupt mit dem Training aufhörten und keinen Schritt mehr liefen. Der Kontakt zu den Mannschaftskameraden und zu mir wurde völlig abgebrochen, auch in der Szene wurden sie niemals wieder gesehen.
Jahre später gestand M. mir, dass ich bei dem Rauswurf richtig gehandelt hätte und er später erst erkannte, dass unser Training das beste war (was natürlich völlig übertrieben ist). Er ist jetzt höchst erfolgreich auf einer anderen sportlichen Ebene tätig. Mir erscheint es darum nicht sinnvoll, ihn aus der Anonymität hervorzuheben.
Man kann den Jugendlichen auch keinen Vorwurf machen, denn sie handelten damals aus der Überzeugung völlig im Recht zu sein. Und wenn wir beide zurückdenken, dann war es bei uns nicht anders. Und in der Sicht auf alle anderen, die hier beschrieben wurden, sollten wir uns an einen Ausspruch aus unserer Gegend halten: Ne´ kleine Macke hat jeder!
Wenn mir keine wichtigeren Themen in den Sinn kommen, findest du in der nächsten Woche an dieser Stelle einen Text über die Trainingsverrückten. Mich gruselt es jetzt schon!!!