Immer wieder schreiben mir Läufer(innen) über überraschende persönliche Entwicklungen oder scheinbar nicht erklärbare Wettkampfabläufe. Warum ist das so? Auch für mich als sehr erfahrenen Trainer sind dabei oft harte Nüsse zu knacken. Scheinbare Widersprüche tauchen auf und Zweifel am eigenem Training werden hervor gerufen.
Dr. Franz Gradinger, aus A-Mühlheim am Inn, 40 Jahre alt fragt unter dem Titel "Lange Läufe für Marathonvorbereitung":
"Hallo Peter, erwarte auf meine Frage keine persönliche Antwort, aber vielleicht kann dieses Thema in einem deiner kommenden Newsletter behandelt werden. Schildere nur stichwortartig meine Erfahrungen. Lief zuletzt am 30.5.2009 in Stockholm meinen insgesamt 7. Marathon (ab 2005). Es war ein Hitzerennen (28° um 14:00 zum Start!!). Erwartungen waren sehr gedämpft, einerseits wegen der laufunfreundlichen Temperaturen, aber noch viel mehr wegen der schlampigen Marathonvorbereitung. Außer dem BIG 25 Wettkampf in Berlin 3 Wochen vor Stockholm absolvierte ich keinen einzigen langen Lauf (länger als 1,5h!!!) geschweige denn Endbeschleunigungen. Mit 30-40 km Wochenkilometern, im zugegeben aber immer flotten DL-Tempo, dazu Tempodauerläufe, ging ich an den Start. Der Ehrgeiz war dennoch groß und so dachte ich mir, ich werde mich den 3:00 Pacemakern anschließen, aber wie so oft war ich halt doch anfangs schneller und stiefelte gleich mit einem 4:00 Schnitt los. So erreichte ich nach 1:25:40 die HM-Marke.. Jeden Moment rechnete ich nun mit einem Einbruch, aber auch nach 30 km war ich immer noch recht flott und nur unwesentlich langsamer. Spätestens bei km 35 kommt der Hammer, dachte ich, aber anscheinend hat er nur auf viele andere Läufer eingeschlagen, denn schlussendlich erreichte ich nach 2:56:10 das Ziel im Olympiastadion. Von Platzierung 193 bei km 5 kam ich auf Platz 124. Die 2. Hälfte in doch akzeptablem 1:30:30. Warum ich das schreibe: Meine PB ist 2:49:27 aus dem Jahre 2007 (Gardaseemarathon). Im Herbst 2008 trat ich beim Berlinmarathon an, war gut vorbereitet, lief jede Woche lange Läufe, auch mit Endbeschleunigung, und wurde ab km 30 in Berlin zum Wanderer. Zugegeben, ich war wieder sehr schnell am Anfang (HM-Durchgangszeit 1:22:13), aber nach den 2:49 wollte ich ja so eine Zeit um 2:45, 2:46 laufen. Bei km 30 war Schluss mit lustig, mindestens 6 Gehpausen wechselten mit langsamen Getrabe, nach 3:08 war ich zu Tode erschöpft im Ziel. Ich zweifle nicht die langen Läufe an, irgendwie muss doch der Körper auf die kommende Marathonbelastung vorbereitet werden. Aber was um Himmelswillen lässt mich in Stockholm (noch dazu bei schlechteren klimatischen Bedingungen und der schwierigeren Strecke) den Marathon so gut finishen und in Berlin "versagen"? Vielleicht doch der "Central Gorvernor"? Oder macht auch vielleicht nur eine um 1 bis 2 min zu schnelle erste Hälfte den Marathon zum Rohrkrepierer? Ich laufe heuer noch in New York, wo ich 2006 bereits 2:51:56 lief. Natürlich nehme ich mir in der spezifischen 8 - 12 Wochenvorbereitung lange Läufe vor, aber als Arzt (Anästhesist und Notarzt) fehlt mir doch sehr häufig die Zeit dafür. Ein schneller 10-er ist dagegen immer drin. Erwarte immer ganz ungeduldig die wöchentlichen Newsletter mit läuferischen Grüßen und einem Lächeln Franz Gradinger" |
Irgendwie unerklärlich diese Zeilen von Franz oder? Es bleiben zusammen gefasst zwei Fragen übrig: Warum läuft jemand, der sich nun kaum auf einen Marathon vorbereitet hat im lockerem Stil ein befriedigendes Rennen und die gleiche Person absolviert an anderer Stelle nach einer professionellen Vorbereitung ein mieses 42,2 km-Rennen?
Klären wir! Franz ist ein erfahrener Marathonläufer. Für Stockholm bereitet er sich flott, aber mit geringen Umfängen vor. Er erhält durch Tempodauerläufe seine Fähigkeit im Marathonrenntempo zu laufen, verzichtet aber darauf lange Läufe zu absolvieren und hat damit auch keine Endbeschleunigungsläufe gemacht. Er hat seinen Körper geschont, ihn aber fit gehalten.
Nun kommt wieder der Central-Governor in das Spiel. Ein blödes Wort, ich nenne es einmal zum besserem Verständnis Gehirn-Zentral-Regierung. Diese sitzt wohl irgendwo im Kortex und passt auf, dass unser Wille den Körper nicht überfordert. Die Zentral-Regierung hält die gesamte Energiemenge unter Kontrolle.
Wie eine gute Regierung sorgt sie dafür, dass immer Energiereserven vorrätig sind, um den Gesamtorganismus zu schützen. Wenn es Ernst wird im Kampf um das Leben, müssen unabdinglich Reserven vorgehalten werden, um einen Gesamtverlust des Organismus zu vermeiden.
Wenn wir nun hart trainieren, stellen wir auch harte Forderungen an die Zentralregierung. Gib, gib! Macht sie auch. Sie lernt, dass die übermäßigen Energieanforderungen nicht gefährlich für sie sind, weil nach harten Belastungen die Reserven regelmäßig wieder aufgefüllt werden. Je härter wir trainieren, desto mehr von der Notreserve gibt sie frei.
Aber sie macht auch eines: Auf zu häufige Anforderungen hoher Reservemengen reagiert sie äußerst empfindlich mit einem Schutzreflex und dies besonders dann, wenn zu viel und zu dicht hintereinander Reserven abgefordert werden, ohne das zwischendurch Rücklieferungen (Regeneration) stattfanden.
Das ist ähnlich wie bei einer Bank. Wenn du mit deinen Rückzahlungen und Zinsen im Rückstand bist, wird die Bank bockig und stoppt alle Auszahlungen.
Wissenschaftler rechnen damit, dass Untrainierte nur über 75 - 80% ihrer Energiereserven (= Kreditreserven) verfügen können. Bei Hochleistungssportlern vermutet man eine Zugriffsmöglichkeit von 95%. Wohl gemerkt: Das sind alles Spekulationen. Dabei bleibt die Zentralregierung aber überaus wachsam: "Wenn wir nun schon an unsere Notreserven gehen müssen, müssen wir ganz besonders aufpassen, dass uns nichts dazwischen kommt, was die letzten Reserven aufzehrt."
In diesen Phasen der Empfindlichkeit kommt es bei mangelnden regenerativen Maßnahmen immer wieder zu solchen Energie-Blockaden. Du läufst wie gewohnt deine 35 km und bei 25 bist du platt wie eine überfahrene Getränkedose. Wenn man sich dann aber der Zentral-Regierung wieder demütig zeigt, werden die Auslieferungen wieder aufgenommen.
Das heißt aber auch, wenn im hoch trainierten Zustand eine leichte Erkrankung oder auch nur eine Verletzung dazu kommt, macht die Zentral-Regierung sofort die großen Tore der Energieversorgung zu und lässt nur noch die unbedingt nötigen offen. Es werden in einer solchen Situation Ermüdungsstoffe ausgeschüttet wie Interleukine und Tumornekrosefaktoren. Und dann werden die Beine bleischwer oder besser gesagt Interleukin-6 schwer.
Man kann dann zwar auch noch einen Marathon laufen, aber keinen guten. Wir halten fest: Je höher wir trainiert sind, desto empfindlicher wird unserer Organismus.
Es passiert aber noch etwas anderes. Wir können diesen Schutzreflex hinterlaufen und das tun wir auch in der so genannten Taperphase. Wir melden der Zentral-Regierung: Jetzt ist die große Gefahr vorbei, wir können die Energieregulierung etwas lockerer angehen lassen. Je länger eine solche Ruhephase andauert, desto lässiger geht die Regierung mit ihren Reserven um.
Wir alle aber wissen, wir können es mit dem Tapern nicht zu weit treiben, einige Systeme im Organismus passen sich ganz schnell rückwärts an. Es gibt aber bei längeren Ruhepausen eine Möglichkeit diese Rückanpassung zu unterbinden, in dem man ein Erhaltenstraining betreibt.
Was sich insgesamt dabei anscheinend in den beiden Marathons von Franz abgespielt hat, drösele ich in der nächsten Woche auf, dies auch mit dem Aufzeigen einiger praktischen Erfahrungen.