In der letzten Woche hatte ich die Fokussierung auf ein läuferisches Ziel betrachtet. In dieser Woche soll es um den sogenannten „Biss“ im Wettkampf gehen. Was ist das und wie kann ich ihn entwickeln?
Mit „Biss“ meine ich die Fähigkeit, sich im Wettkampf so „quälen“ zu können, dass man das gesamte Rennen an seiner Leistungsgrenze absolviert, über seine Grenze zu gehen und nicht „zurückzuziehen“ wenn es unangenehm und schmerzhaft wird.
Hier wieder gleich der Hinweis: natürlich kann jeder aus seinem persönlichen Grund laufen. Sei es um sich überhaupt zu bewegen, um fit zu bleiben, um mal einen HM zu finishen oder um bei seinen Waldläufen zu meditieren. Spätestens aber, wenn du dir das Ziel gesetzt hast, deine Leistung immer weiter zu steigern und deine Grenzen auszutesten, wirst du dich auch quälen müssen. Kein persönlicher Rekord auf hohem Niveau wird locker, ohne Kampf und Besiegen des inneren Schweinehundes gelaufen. Nein, dafür musst du das Beißholz rausholen und richtig zubeißen!
Im Interview von Alex Hutchinson aus der letzten Woche spielte die sogenannte „Todes-Reserve“ eine Rolle. Gemeint ist der Unterschied in der „Haltezeit“ wenn du einerseits in 2,50 m Höhe an einer Reckstange oder anderseits 100 m über einer Schlucht an einem Baumast hängst (das Beispiel gefällt mir etwas besser als das mit der Pistole aus dem Interview). Im zweiten Fall, wo es um dein Leben geht, wirst du deutlich länger festhalten. Diese Reserve liegt wohl irgendwo zwischen 5 und 8%. An diese Reserve im Normalzustand heranzukommen ist unmöglich. Das ist zum Selbstschutz des Körpers vermutlich auch gut so. Trotzdem wäre es doch schön, für sportliche Leistungen im Wettkampf zumindest bis nahe an die Grenze heranzukommen. Mentale Hindernisse machen dies vielen Läufern nicht möglich. Der Kopf spielt nicht mit. Den weltrekordlaufenden Top-Läufern gelingt dies jedoch mit Sicherheit.
Ich kann mich an folgenden Spruch erinnern: „Wenn dir im Wettkampf die Geburtstage deiner Familie einfallen, dann läufst du noch nicht schnell genug“.
Es geht also wieder um mentales Training und die Entwicklung persönlicher Strategien um diese Grenzen immer weiter zu verschieben. Dabei ist die absolute physische Leistungsfähigkeit erst mal zweitrangig. Ob du nun 45 oder 35 min über 10 km läufst ist erstmal egal.
Nach dem Frankfurt Marathon 2018 schrieb mir ein Club Mitglied (hatte in dem Rennen gerade seine Bestzeit von 2:35 auf 2:29 h gesteigert) eine Mail mit folgendem Inhalt:
Nochmal zum Thema Frankfurt. Der Wind war sehr stark und eiskalt. Eigentlich nicht gerade ein Tag an dem man seine Bestzeiten gerade so locker einreißen kann. In meinem Kopf war jedoch nur „unter 2:30“ gespeichert. Der Kopf war anscheinend so stark, dass ich keine Schmerzen zugelassen habe. Ich kann nur jedem raten, das mentale Ding oben auf dem Hals nicht zu vergessen :-))) Damit gewinnt man neue Bestzeiten!
Die Möglichkeiten mentalen Trainings sind sicher vielfältig. Die Visualisierung des großen läuferischen Zieles haben wir in der letzten Woche betrachtet. Was machst du nun aber direkt in Training und Wettkampf? Ich verrate dir, was ich zu meiner Zeit getan habe. Auch wenn ich es damals niemals Meditation genannt hätte, war es genau das.
Aufmerksamkeit (Konzentration)
Ein Wettkampf (vor allem Marathon) dauert lange Zeit und ist vom Bewegungsablauf her meist sehr monoton. Das heißt, man hat viel Zeit zum Nachdenken. Diese Gedanken können hilfreich oder viel öfter auch weniger hilfreich sein. Man hat Zeit über seine schmerzende Hüfte, die sich bildende Blase am großen Zeh oder den drückenden Magen nachzudenken. Das heißt, du bist abgelenkt, nicht mehr auf dein Ziel fokussiert. Damit hast du in den meisten Fällen schon verloren.
Ich habe diese Feststellung mit der Konzentration (ohne dramatische Auswirkungen) 2006 beim Ironman gemacht. In 5 h auf dem Rad, ohne unmittelbaren Kontakt zu anderen Athleten (Windschattenverbot!) lässt nach spätestens 3 h die Konzentration nach und die Gedanken schweifen ab. Ein paar Mal habe ich mich erschrocken, dass meine Gedanken wo anders waren. Promt war die Geschwindigkeit um einige km/h abgefallen. Ich konnte anschließend nicht mehr nachvollziehen, wie lange ich in dem Zustand unterwegs war. Aber dieser Ironman war 13 Jahre nach meiner aktiven Zeit. Die Konzentration war etwas verloren gegangen.
Das war auch der Grund, warum ich nur einmal ernsthaft den Berlin Marathon gelaufen bin. Ich konnte dem ganzen TamTam am wilden Eber nicht viel abgewinnen. Es lenkte mich damals massiv in meiner Konzentration ab und als ich an der Stelle durch war, lag der Fokus plötzlich auf den Schmerzen, die ich vorher ausgeblendet hatte.
Gleiches gilt für das Laufen mit Kopfhörern und Musik oder Hörbuch. Da kam und komme ich nicht heran. Es lenkt mich ab. Manch einer will abgelenkt sein, ich möchte mich auf das Laufen konzentrieren.
Die Konzentration kannst du bereits im Training lernen. Fokussiere dein Zeit, konzentriere dich auf Schritt, Atmung und ggf. die Gruppe in der du läufst. Lege dir dazu entsprechende Mantren bereit. Dazu später mehr.
Achtsamkeit
Es gibt eine Meditationsform, die nennt sich Achtsamkeitsmeditation. Du bist achtsam, immer wenn du deinen Geist auf das fokussierst, was du über deine Sinne wahrnimmst. Versuche es mal im Training. Fokussiere dich auf deine Atmung, deine linke Wade oder den rechten Oberschenkel. Spüre genau in dich hinein. Wenn dir dies gelingt, dann kannst du dich auch auf die Kraft deines Fußabdrucks fokussieren. Damit hast du ein wunderbares Werkzeug deine Laufgeschwindigkeit einzuschätzen. Lässt die Kraft des Fußabdrucks nach (flache Strecke), sind schnell 10 sec/weg. Diese Information bekommst du unmittelbar, nicht erst wenn du an der nächsten Kilometer-Marke vorbeiläufst.
Ich hatte mir dazu im Training u.a. 2 Mantren bereitgelegt, die ich mir dann ins Bewusstsein holte und immer wiederholte:
- Zum Hochhalten der Abdruckskraft: „Druck“.
- Bei Tempodauerläufen, bei denen es nach ersten schnellen Kilometer plötzlich hart wurde und die aussichtsreiche Gesamtzeit zu schwinden drohte: „Die Zeit gebe ich heute nicht mehr her“.
Versuche dir hier deine eigene Strategie und dein eigenes Mantra zu entwickeln. Ziel ist es deinen Fokus auf die wesentlichen Dinge zu lenken, wie hier z.B. Fußabdruck und gleichmäßige Atmung. So kannst du Dinge, wie den Schmerz durch in die Muskel schießendes Laktat, weitgehend ausblenden.
10 km Rennen
Prinzipiell ist die Trainingsform (Einheit) m. E. nicht entscheidend, auch wenn der Tempodauerlauf eine hervorragende Möglichkeit ist, den Biss zu entwickeln. Was immer hilfreich ist, versuche bei allem was du machst, den negativen Split im Kopf zu behalten. Versuche immer die letzten km oder das letzte Intervall am schnellsten zu laufen. Das gibt dir die Gewissheit, am Ende das Tempo erhöhen oder zumindest halten zu können.
Der 10 km Wettkampf ist aus meiner Sicht die ideale Möglichkeit den „Biss“ im Wettkampf zu entwickeln und sich an sein Limit heranzuarbeiten. Sie waren meine meist gelaufene Strecke. Kürzere Strecken bis 5000 m empfinde ich (für diesen Zweck) als zu kurz. Das Tempo ist zwar höher, aber wenn es anfängt weh zu tun, ist das Rennen praktisch auch schon zu Ende. Längere Strecken wie HM und Marathon werden immer mit angezogener Handbremse, nach einem taktischen Plan angelaufen. Diese Strecken, vor allem den Marathon, kannst du auch nicht beliebig oft in kurzer Zeit absolvieren. Außerdem benötigst du gerade beim Marathon bereits die mentale Stärke und den Biss. Bleiben die 10 km. Eine Strecke die quasi durchgängig am Anschlag gelaufen wird und die du relativ häufig laufen kannst. Wenn es bei dieser Distanz anfängt hart zu werden, hast du immer noch 4-5 km vor dir. Das ist der Abschnitt, in dem du das Kämpfen lernen und den Biss entwickeln kannst. Hier alles andere auszublenden und tempomäßig nicht nachzulassen ist das Ziel. Je häufiger und intensiver du diese Strecke im Wettkampf absolvierst, je besser wird dir dies im Laufe der Zeit gelingen.
Ich erinnere mich gern an das beste Rennen welches ich je gelaufen bin. Es war meine 10.000 m Bestzeit auf der Bahn. Mittwoch Abend bei einem Abendsportfest in Berlin, nachdem ich am Sonntag meine Bestzeit über 3000 m Hindernis mit 9:38 min gelaufen war. Wir liefen in einer Gruppe von 5 Läufern ein relativ konstantes Tempo von 3:15-3:17 min/km. Bei km 5 musste ich mit einem km von 3:18 min leicht abreißen lassen. So lief ich 2 Runden lang mit ca. 10 m Abstand hinter der Gruppe her. Mir gelang es, mich mit meinem Mantra „Die laufen nicht schneller als ich“ und viel Willen Meter um Meter wieder heranzukämpfen. Kein Gedanke an irgend einen Schmerz, zu hohe Temperaturen oder Wind auf der Gegengerade. Ich hatte nur die Fersen meiner Konkurrenten im Blick. Als ich wieder dran war, passierten wir die 7000 m Marke. Es lag also nur noch meine Lieblingsdistanz von 3000 m vor uns. 7 1/2 Runden. Ab da kam das nächste zurecht gelegte Mantra zur Anwendung: „Die lasse ich nicht mehr laufen, egal was passiert“. So war es dann auch. Selbst als der letzte km in 3:10 min gelaufen wurde, blieb ich dran. Es war Kampf pur. Mein damaliger Trainer und SCC Berlin Legende Fritz „Bubi“ Orlowski sollte später erzählen, er hätte in seiner ganzen Karriere nie jemanden so kämpfen sehen. Ich muss schrecklich ausgesehen haben. Mir war aber nur mein Ziel wichtig. So kam ich nach 16:22 bei 5000 m mit einer zweiten Hälfte von 16:16 min ins Ziel.
Immer wieder bekam ich Emails von Mitgliedern, die wiederholt am Ende eines Marathons oder auch Halbmarathons einbrachen, oder deren HM-Zeit nicht zu ihrer Marathonzeit passte. Auf die Frage wie ihre aktuelle 10 km Zeit ist, kam dann die Antwort „bin ich lange nicht gelaufen“ oder gar „bin ich noch nie gelaufen“. So kam ich meist zu dem Schluss, dass zwar grundsätzlich der Wille da war, es aber am „Biss“ gefehlt hat.
In diesem Jahr hatte ich unsere Greif-Club Mitglieder, das sind diejenigen Läufer die einen Trainingsplan von uns bekommen, aufgefordert, vermehrt auch mal die kurzen Wettkämpfe bis 10 km zu laufen. Es wurde erfreulicherweise gut angenommen und führte dazu, dass wir bis heute bereits 90 neue Bestzeiten über 10 km zu Buche stehen haben. Mehr als im gesamten Jahr 2018. Wir werden sehen wie sich dies auf die HM- und Marathonzeiten im Herbst auswirkt.
Zusammenfassung:
- Setze dir ein hohes Ziel und fokussiere dich im Alltag, Training und Wettkampf darauf. Stelle dir immer wieder die Situation vor, wenn du in deiner Traumzeit ins Ziel läufst.
- Löse dich von ungünstigen Einflüssen die deinem Ziel im Wege stehen.
- Gehe Training und Wettkampf mit hoher Konzentration an. Entwickle dir Mantren, die dir helfen die Konzentration auf dein Ziel zu erhalten.
- Entwickle dir Strategien, die dir helfen, konzentriert und achtsam zu bleiben und störende Einflüsse und Gedanken auszublenden. Hier nochmal ein paar meiner in Training und Wettkampf benutzten Mantren, die ich beim Laufen immer wiederholt habe:
- „Druck hochhalten!“
- „Die laufen nicht schneller als ich!“
- „Die lasse ich nicht laufen!“
- „Dran bleiben.“
- „Die Zeit lasse ich mir nicht nehmen!“
- „Weiträumig Kontakt halten!“
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