In diesem Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe (10.07.2015), sind wir gerade mitten in der Sommerregeneration. Vielleicht kannst du mir auch einmal ein paar Tage Ruhe gönnen, indem ich hier einen Text aus dem Jahre 2012 wiederhole.
Ich empfinde ihn als ganz wesentlich für jeden Läufer(in). Er beschreibt, wie du dich selbst besiegen kannst:
In dieser Woche muss ich ja mal auf fremde Federn zurückgreifen und hier einen Artikel veröffentlichen, der von der Seite "Leichtathletik Coaching-Academy" von Lothar Pöhlitz stammt. Lothar hat freundlicherweise die Genehmigung dazu erteilt, diesen in unserem Newsletter zu veröffentlichen.
Lothar ist ein Vollblut-Leichtathletik-Trainer-Profi, der lange Jahre Nationaltrainer im deutschen Leichtathletikverband war. Er betreibt seine Webseite für Elitemittel- und Langstrecken-Läufer. Und es kann uns allen nicht schaden, wenn wir auch einmal auf das Training der Profis der Weltelite schauen.
Denn im Herzen trägt doch jeder von uns den Traum, auch einmal bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen zu glänzen. Träumen darf man, aber jedem von uns sollte auch klar sein, dass der Weg dorthin nur mit einem gnadenlosen Arbeitseinsatz bezwungen werden kann.
Natürlich wirst du denken: „Was soll ich mich mit einem Olympiasieger vergleichen?“ Natürlich werden 99 Prozent von uns niemals die Leistungen eines Haile Gebrselassies erreichen können. Wir sind alle keine Profis, aber genauso sind wir alle ehrgeizig genug, unsere Zeiten zu verbessern.
Wir können aber von der Einstellung der Eliteläufer lernen. Es ist egal, ob du von 60 Minuten/10 Kilometer auf 55 Minuten oder von 37 auf 33 kommen möchtest. Deine Einstellung muss stimmen. Und dazu passt genau der folgende Titel:
„Zuerst musst du dich selbst besiegen.“
Wie das Training in Äthiopien mein Laufen veränderte*
Teil-Übersetzung aus einem Beitrag von: Hilary Stellingwerff (Canadian runner - 1500m)
Regensburg, 09.09.2012 (Lothar Pöhlitz) - Seine müden Augen und sein wackeliger Gang verrieten alles. Es war ein langer, harter Tag gewesen und ich denke, dass er es vorgezogen hätte, sich jetzt auszuruhen anstatt mit Fremden zu Abend zu essen.
Er hatte gerade einen Halb-Marathon-Weltrekordversuch in Portugal hinter sich, jedoch verfehlte er ihn mit 59:15 Minuten knapp — wobei das immer noch die siebtschnellste Zeit in der Geschichte ist. Er setzte sich neben mich und erzählte mir, dass er zwar sehr müde, jedoch glücklich sei, jetzt bei uns zu sein. Ich konnte nicht widerstehen und musste ihn einfach nach seinem Erfolgsgeheimnis fragen. Bei dieser Frage wurde er wieder wacher und antwortete mit sechs einfachen Worten:
„Zuerst musst du dich selbst besiegen!“ Dann fuhr er fort: „Sicherlich muss man hart trainieren, aber danach ist alles einfach. Wenn du einmal in meinem Land warst, wirst Du sehen, was ich meine.“
Äthiopiens Haile Gebrselassie ist mit 26 Weltrekorden wahrscheinlich der größte Langstreckenläufer, den es auf unserer Erde je gegeben hat. Trotzdem weiß auch er, wie es ist, zu verlieren. Zum Beispiel bei seinen Weltrekordversuchen und Meisterschaftsfinalen, bei denen er es schon mehrere Male knapp nicht geschafft hatte.
Bei der letztjährigen Olympiade, beispielsweise, kam er beim 10.000 Meter-Lauf als Sechster ins Ziel, hinter zwei seiner jüngeren Landsleute. Trotzdem kommt er rasch wieder auf die Beine: Denn bereits einen Monat nach Peking brach er in Berlin den Marathonweltrekord mit einer Zeit von 2:03:59 Stunden. Sieben Monate nach seinen motivierenden Tipps entschied ich mich, in sein Land zu reisen und zu sehen, was ich dort alles lernen könnte.
Um 5.30 Uhr beginnt in Addis Abeba das Leben.
Um 5.30 Uhr wurde ich abrupt von der morgendlichen Hektik in Addis Abeba geweckt: bellende Hunde, lärmende Bauarbeiten, Einheimische, die sich entweder in ihrer Landessprache Amharisch oder in einem der anderen 84 äthiopischen Dialekte unterhielten. Ich kletterte aus meinem Bett und bereitete mich mental auf einen weiteren Trainingstag auf fast 3000 Höhenmetern vor — Ein Training, bei dem ich schon bei leichtem Laufen nach Atem ringe, das sich zudem wie ein Training im Grenzbereich anfühlt und mein Herz 20 Schläge pro Minute schneller schlagen lässt als üblich.
Zuerst das Frühstück: Haferflockenbrei mit Vollmilch und Butter („Athleten brauchen das Extra an Fett für mehr Energie“ wird uns ja immer erzählt), zusammen mit einem sehr starken Kaffee (Kaffeesatz inklusive) oder Tee mit mehreren Löffeln Zucker — Kohlenhydratladung auf die einfachste Art.
Die Läuferwelt traf sich in Äthiopien.
Es waren dutzende Athleten verschiedenster Nationalitäten in unserer Gruppe, die zu den besten Läufern der Welt gehören. Unter ihnen, zum Beispiel, Maryam Jamal aus Äthiopien, die amtierende Weltmeisterin über 1500 Meter, die nun Bahrain vertritt; Englands Europameister Mo Farah; der schwedische Olympiafinalist Mustafa Mohammed und Lidia Chojecka aus Polen, die 1.500 Meter unter vier Minuten kann.
Wir alle waren gekommen, um die dynamischste Laufkultur der Welt zu erleben — in der Hoffnung, dass wir ebenfalls bald zu den Weltbestzeitläufern zählen würden, wenn wir das tun, was die Äthiopier tun. Wir waren dort, um das Laufen einzuatmen und danach zu leben.
Man ist so alt wie man sich fühlt, Geburtsdokumente gibt es eher selten.
Unsere bunt gemischte Gruppe aus ausländischen Athleten wurde von einem Einheimischen namens Omeno angeführt, der uns als Zugläufer und Wegweiser durch die verschiedenen Trails leiten sollte. Omeno ein Marathonläufer mit einer Bestzeit von 2:15 Stunden — eine Zeit, die letztes Jahr nur ein kanadischer Läufer erreichte, die jedoch in Äthiopien nichts Ungewöhnliches war. Er ist um die 35 Jahre alt, schätzt er, jedoch weiß er sein genaues Alter nicht.
Das ist eigentlich ganz normal in Äthiopien, weil Geburtsdokumente in manchen Gegenden eher selten sind, und es anscheinend nicht viele interessiert. Man ist so alt, wie man sich fühlt, und wenn man sich fühlt, läuft man eben auch schnell, warum sollte man sich dann zur Ruhe setzen? Jeden Morgen pendelte der große und ziemlich dünne Omeno ungefähr 90 Minuten, um uns um sechs Uhr morgens bei unserem Gasthaus zu treffen, um später mit uns zu trainieren.
Die 16 km – Runde in 2700 m Höhe immer schneller.
Nach dem Frühstück machten wir uns dann in einem kleinen Bus auf eine sehr holprige und todesmutige Fahrt durch die Stadt. Der Wagen schlängelte sich an Autos vorbei, durch Rinderherden und Menschengruppen hindurch, die gerade zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit waren. Alle paar Minuten rief uns unser Fahrer Tariku beruhigend zu „Nur ein paar verrückte Leute, kein Problem“, während wir angsterfüllt unsere Sitze umklammerten.
Schließlich ließen wir die Stadt hinter uns und erreichten Zindafa, eine Gegend, die als Trainingsort für Athleten bekannt ist. Hier befindet sich die berühmte 16 Kilometer-Runde, die sich auf 2.700 Höhenmetern befindet. Das ist der Ort, an dem sich das „Who-is-Who“ der äthiopischen Athleten sozusagen ihren Weg an die Topspitze erläuft. Während unseres Trainings begegneten wir regelmäßig bestimmt 100 einheimischen Läufern.
Trotz der quälenden Höhenlage hat die 16 Kilometer-Runde wahrscheinlich mehr schnellere Rundenrekorde als viele Weltklasse-Rennstrecken. In meiner ersten Woche hab ich mich mit 80 Minuten für eine Runde bei der dünnen Luft gequält. In der dritten Woche schaffte ich 72 Minuten.
Ich war ziemlich stolz auf mich, bis mir eine der jungen einheimischen weiblichen Athletinnen, die es selbst nicht ins äthiopische Nationalteam schaffte, erzählte, dass sie in der Woche zuvor die Runde in 66 Minuten gelaufen sei. Als ich dann noch erfuhr, dass Meseret Defar, die ehemalige Weltrekordhalterin über 5.000 Meter, die Runde in 62 Minuten läuft, kam ich mir noch kleiner vor.
Trainieren – essen - schlafen – trainieren – essen - schlafen – trainieren.......
Wir trainieren, essen zu Mittag, halten Mittagsschlaf, trainieren wieder am Nachmittag, essen zu Abend und gehen dann früh ins Bett. So sah drei Wochen lang unser Tagesablauf aus: Aufstehen, essen, laufen, essen, Mittagsschlaf, einen Snack essen, laufen, essen und wieder schlafen.
Äthiopien ist voll von versteckten Ausdauerlauftalenten, die darauf warten den Durchbruch zu schaffen. Diese steinige 16 Kilometer-Runde ist für alle Beweis und Prüfung, ob sie sich mit den besten der Welt schon messen können. „Sie sehen, wie ihre Landsmänner- und frauen, wie die Olympiasieger Tirunesh Dibaba und Kenenisa Bekele zu Superstars werden und wissen daher, dass man es schaffen kann“ erzählt Kassahun Yilma, eine ortsansässige Sportjournalistin.
Maryam sagt, dass sie damit aufgewachsen sei Gebrselassie dabei zuzuschauen, wie er seine Runden um ihr Dorf gelaufen ist und seine Erfolge sie inspiriert hätten. „Das Leben und das Aufwachsen in unserem kleinen Dorf war nicht leicht“, aber ich lernte, dass das Laufen ein Weg zu einem besseren Leben war.“ Heute haben sie und ihr Ehemann und Trainer Tareq Häuser in Äthiopien, der Schweiz und Bahrain. Zudem bauen sie gerade ein Luxushotel in Addis.
Für Tareq ist die Antwort warum Äthiopier das Laufen dominieren einfach:
Das, was Athleten aus Kenia und Äthiopien gemeinsam haben, ist ihr Wille zu gewinnen und ihre Bereitschaft, dafür unglaublich hart zu trainieren.
„Das Athleten-Leben ist für die Afrikaner das Wichtigste; es gibt für sie nichts anderes. Sie trainieren hart und schlafen den Rest des Tages, um sich zu erholen. Es gibt keinen zweiten Job oder Freizeit. Sie sind wirklich sehr diszipliniert und arbeiten sehr hart. Sie wissen dass Disziplin notwendig ist, um der Beste in der Welt zu sein, und dass ihre Konkurrenten da nicht anders denken.“
Aber als ich mit Defar sprach, stellte ich fest, dass sie eine erstaunlich normale Athletin ist. „Wie läuft dein Training? Magst Du unser Land?“ fragte sie mich. Als ich ihr erzählte, dass ich es liebe, aber die Höhe mir zu schaffen macht, versicherte sie mir, dass es für sie auch schwer ist. „Mach dir keine Sorgen, für mich war das Training heute Morgen sehr hart. So hart, dass mir mittendrin schlecht war, manchmal ist die Höhenlage sehr schwierig, aber es macht dich stärker.“
Das Einlaufen beginnt mit Gymnastik und endet im maximalen Tempo.
Ich kam nach Äthiopien, um zu lernen und von den Ratschlägen meiner liebenswürdigen, talentierten und sehr schnellen Gastgeber zu profitieren. Anfangs stand ich einigen Ratschlägen, die sie erteilten, skeptisch gegenüber, da sie sich so sehr von unseren kanadischen Trainings unterschieden. Das Erste, was mir auffiel, war das Warm-Up, das sehr von den osteuropäischen Drills, die die meisten kanadischen Athleten lernen, abwich. Wenn man irgendeinen äthiopischen Athleten beobachtet, wie er sich gerade aufwärmt, wird man wahrscheinlich immer die gleiche Drillreihenfolge sehen:
Zuerst leichtes Joggen mit gebeugtem Oberkörper, wobei man seine Arme schüttelt, als wären die Hände eingeschlafen. Danach eine Reihe von Armschwüngen. Zuletzt eine Reihe von „Rock Kicks“, so nenne ich sie, in verschiedenen Winkeln um den Körper, als wenn man Axl Rose bei einem Guns N’ Roses-Konzert wäre.
Sie geben einem die Möglichkeit, nach dem typisch äthiopischen Warm-Up-Lauf, noch einmal Luft zu holen. Denn man fängt im Fußgängertempo an zu joggen und man beschleunigt zunehmend bis man in seinem persönlichen maximalen Tempo läuft, das man für die letzten Minuten beibehält. Sie sagten mir, dass dieses ganze Warm-Up unglaublich wichtig sei, damit das erste Trainingsintervall beziehungsweise der Rennstart den Körper sozusagen nicht schockt. Ein weiterer Aspekt ihres Trainings, den ich für mein eigenes adaptiert habe, sind schnelle, wiederholte Bergläufe mit vielen Pausen zwischendurch (z.B. 6 x 15 Sekunden Berglauf mit 2 Minuten Pause dazwischen). Auf diese Art und Weise kann man Schnelligkeit und Dynamik das ganze Jahr hindurch bewahren, auch wenn man ansonsten viel Ausdauertraining macht.
„Du musst gut essen und dich nach dem Training viel ausruhen.“
Zuletzt betonten die äthiopischen Athleten, dass es bei Erholungsläufen wichtig sei, auf weichem Boden, z.B. im Wald und langsam genug zu laufen, damit der Körper sich wirklich erholen kann. Sie kümmern sich nicht so viel um ihr Tempo, sondern darum, dass sie genügend „guten Sauerstoff“ von den Bäumen bekommen und für ihren Körper auf „weichem Boden“ laufen. Zudem ist es ein Muss, im Training hintereinander zu laufen und zwischen den Bäumen hin und her zu wechseln, um den Körper darauf zu trainieren, Richtungen und Tempo zu wechseln, wie es im Rennen auch der Fall ist.
Ein weiterer, sehr wichtiger Aspekt der Erholung, wie es Tareq erläuterte, ist, dass man sehr viel schläft. Äthiopische Athleten schlafen immer, wenn sie nicht gerade laufen oder essen. Tirunesh Dibaba sagte, dass sie, wenn sie viel und hart trainiert, tagsüber bis zu zwei Stunden und nachts neun bis zehn Stunden schläft. „Du musst gut essen und dich nach dem Training viel ausruhen“, das ist ein Satz, den ich dort ständig gehört habe.
Die Einstellung, nicht die Höhe, bringt den Erfolg.
Wahrscheinlich ist die Mentalität der äthiopischen Läufer das Einzige, was man schwer übernehmen kann. Sie scheinen so etwas wie Gedächtnisschwund zu haben, wenn es um schlechte Trainingstage oder nicht erfolgreiche Rennen geht. Maryam sagte immer: „heute war mein Körper nicht gut drauf, aber morgen ist das vergessen“. Dieser Denkansatz ist besonders für ein Rennen von großem Nutzen.
Das Training in Äthiopien öffnete mir die Augen und war ein großes Läufer-Erlebnis, es veränderte mein Leben. Wie die meisten von uns, muss ich mir ein Beispiel an Chengere nehmen und mich weniger über die etablierte Hackordnung sorgen. Darüber hinaus werde ich Gebrselassies Ratschlag „mich selbst zu besiegen“ beherzigen, denn was zählt, ist die Einstellung und nicht die Höhenlage, wenn es um den Erfolg geht — das, plus viele harte Trainingseinheiten auf der berühmten 16-Kilometer-Runde.
*Quelle: Mai/Juni Ausgabe der Zeitschrift "Canadian Running“. Hilary Stellingwerff ist eine der besten 1500m-Läuferinnen Canadas (2:01,22 / 4:05, 08).
Ich hoffe, dich haben diese Zeilen nicht zu sehr erschreckt. Das ist Trainingsrealität und kein Talentzauber. Du erinnerst dich vielleicht, dass ich einmal die deutschen Langstrecken-Eliteläufer kritisiert habe, die es sich im höheren Trainingslager in Kenia haben gut gehen lassen.
Wenn du meine damaligen Zeilen liest und dann den oben stehenden Text, dann weißt du, warum unsere Läufer die kenianischen nur noch mit dem Fernglas sehen können. Diese deutsche Schwäche ist natürlich auch im Dilemma unseres jetzigen Systems zu sehen.
Nur eines sollte uns klar sein: Es liegt nicht am Talent, um zu siegen, es liegt an dem Sieg über sich selbst und dem Willen zur jahrelangen härtesten Trainingsarbeit. Und eines ist mir auch klar geworden: Das, was wir in unseren Trainingslagern machen, ist wirklich Trainingsurlaub.
Und wenn dort noch jemand vor Ort meckert, dann setzen wir ihn ins Flugzeug und schicken ihn nach Äthiopien. Erst wenn er zehnmal die 16 Kilometer-Runde in Zindafa gelaufen ist, darf er oder sie wieder zurück.
Die letzten Zeilen waren natürlich ein Spaß. Das muss ich immer ausdrücklich dazu schreiben, sonst bekomme ich morgen wieder böse Mails.