In diese Zeit der Schnelligkeitsentwicklung passen auch sehr gut Tempoflexläufe. Dieses Training ist von mir vor 12 Jahren erfunden worden und hat sich seitdem bewährt. Nachfolgend werde ich in großen Teilen auf den damals geschriebenen Artikel, der in "Spiridon" erschien, zurückgreifen.
Es ist überall augenfällig: Die Tempo-Variationsfähigkeiten in Wettkämpfen sind bei unseren Athleten(innen) in der Regel eher mangelhaft. Während die ausländischen, speziell die afrikanischen Mitbewerber, die scheinbar "irrsten" Dinge in Rennen veranstalten, ziehen unsere Athleten immer ruhig und gleichmäßig ihre Bahn. Das gleiche kann man auch im mittleren und unteren Leistungsbereich beobachten. Der Spruch - "Geh nicht so schnell an!" - ist das deutsche Symbol für eine ausgefeilte Renntaktik. Gleichmäßige Tempoentwicklung von Anfang bis Ende. "Farbe" kommt selten in ein Rennen: Mal rennt doch jemand zu schnell los und "stirbt" langsam, eventuell wird um den Sieg gespurtet, aber Tempo-Variationen in der Renngestaltung sieht man äußerst selten.
Bei den meisten Läufer(innen) fällt die relative Unfähigkeit auf, ihre Geschwindigkeit im Wettkampf zu steigern, wenn dies erforderlich ist: "Ich konnte einfach nicht schneller!" Eine gleichmäßige Fahrt können praktisch alle Betroffenen gut auch über längere Strecken durchbringen. Wird aber die Geschwindigkeit z.B. im Mittelteil des Rennens deutlich schneller, so wird dieses Tempo koordinativ schon nicht mehr beherrscht und es kommt zu einem Leistungseinbruch.
Die Betroffenen meinen, dass das Problem energetischer Art sei, weil sie einen Kraftmangel verspüren. Der angestrebte Tempobereich wird aber zentralnervös innerhalb der Ermüdung nicht mehr beherrscht. Aufgrund der daraus folgenden koordinativen Schwäche, muß zum Erreichen der nötigen Geschwindigkeit unverhältnismäßig viel Energie aufgewendet werden.
Die anaerobe Schwelle wird überschritten, die nachfolgende erhöhte Laktatausschüttung bewirkt ein übriges. Es werden vermehrt Stresshormone freigesetzt, dem folgt eine Verkrampfung durch die Verstärkung der Antagonisten. Der Betroffene "wackelt", blickt verzweifelt, Gegner oder Gegnerin ziehen von dannen und Sieg und Zeit sind entschwunden. Die Frage nach Möglichkeiten der Tempovariation im Rennen stellt sich ja nicht allein in physischer Hinsicht, auch die psychische Komponente muss betrachtet werden. Denn nur der kann an seine Fähigkeiten glauben, der auch im Training schon einmal die Erfahrung gemacht hat, dass er diese besitzt.
Wie sieht es aber in der Trainingspraxis aus: Es wird ein Tempolauf mit der durchschnittlichen Geschwindigkeit oder einer höheren begonnen. Am Ende kommt es meist zu einem Abfall der Laufgeschwindigkeit. Das heißt, die läuferisch stärkste Leistung wird in der Regel in der Zeit der geringsten Ermüdung erbracht! Wenn wir aber unser Renntempo steigern wollen, müssen wir die höchste Laufgeschwindigkeit dann erreichen, wenn der Organismus schon nach einer Pause ruft.
Ein wunderschönes Beispiel war Temposteigerung von Tobias Sauter beim Essen-Marathon 2008, den er letztlich in 2:18 h gewann. Er lief sein Rennen bis cirka km 35 in einem Tempo zwischen 3:17 und 3:20 min/km. Als seine Gegner Schwächen zeigten, drehte er auf, so dass die Funken flogen. Bis zum Ziel lief er jeden km in einem Schnitt von 3:10 min/km. Das war überaus beeindruckend.
Tobi hat Endbeschleunigung und Tempoflextraining trainiert. Beides setzt auf eine Entwicklung des höchsten Tempos in der Phase der größten Ermüdung. Andere Trainer behaupten, so etwas ist unmöglich. Tobi bewies, dass es geht. Nach dem Sieg in Essen verschwand der größte Gegner dieser Taktik ohne Gratulation. Auch international haben sich diese Trainingsformen durch gesetzt. Und unsere Clubmitglieder beweisen Woche für Woche mit Siegen und persönlichen Rekorden, dass Tempoflextraining und Endbeschleunigung der wahre Bestzeitendünger ist.
Das Tempoflextraining ist insgesamt nicht besonders schwierig. Muss doch das Training nur ruhig begonnen und nachfolgend langsam erhöht werden. Die Sache hat aber in der Praxis zwei ganz "scharfe Haken". Als erstes wird bei einer freien Wahl der Trainingsgeschwindigkeit das Tempo in der Regel zu schnell erhöht. Die Ermüdung ist am Ende der Belastung schon so weit fortgeschritten, dass eine Erhöhung über das angestrebte durchschnittliche Renntempo nicht mehr möglich ist.
Der zweite, weitaus wichtigere Aspekt beim Steigerungs- oder Crescendolauf ist fast ohne Ausnahme zu beobachten: Geschwindigkeitsbereiche, die koordinativ nicht beherrscht werden, werden blitzschnell überlaufen. Das heißt, der oder die Betroffene verharrt nur für Bruchteile von Minuten in diesem von ihm ungeliebten Tempobezirk. Das hat zur Folge, dass genau die Geschwindigkeit nicht trainiert wird, die wichtig ist: Der unbeherrschte Teil.
Es gibt einen Grundsatz fast aller Langstreckenläufer(innen), der eisern aber meist unbewusst eingehalten wird: Es wird das am liebsten trainiert, was man am besten kann. Die Schnellen wollen ständig Tempo bolzen und keinen Meter zuviel laufen und die Ausdauertypen möchten nach Möglichkeit immer ein paar km mehr und noch ein bisschen langsamer trainieren. Irgendwie hat so jeder seinen Schritt, bei dem er mit den im Verhältnis geringsten Kraftaufwand, die für ihn vermeintlich beste Leistung erbringt: Stereotypisches Laufen an jedem Trainingstag.
Insgesamt wird diese Tendenz zur Stereotypie durch die Industrie noch verstärkt. Besonders Pulsmesser zeigen sich kontraproduktiv bei der Entwicklung von variablen Renngeschwindigkeiten: "Um Himmelswillen, ich bin schon wieder 5 Schläge über meinem Limit!" Nicht das eigene Gefühl wird das Maß aller Dinge, sondern die Technik. Auch in meiner eigenen Trainingsgruppe konnte ich die Unfähigkeit zur Tempovariabilität finden.
Vermehrt kurze Wiederholungsläufe - 200 - 600 m - wollten wir nicht einsetzen, weil diese leicht zu intensiv gelaufen werden und dann der Ausdauer schaden. Vielleicht sollten wir insgesamt die Gleichförmigkeit aus dem Training nehmen? Sollen wir es wie die Keniaten versuchen? Jedes Training auf "Wertung" laufen? Auch ruhig begonnene Trainingsläufe werden dort zum großen Teil mit einem "Ausscheidungsrennen" auf dem letzten km beendet.
Ich glaube aber nicht, dass sich so etwas in unserem Kulturraum verwirklichen läßt. Wir können aus dem europäischen Menschen keinen Afrikaner machen, leichter ist es, das afrikanische Training zu europäisieren. Unsere Läufer(innen) zeichnen sich durch hohe Individualität aus. Die Erfahrung zeigt, dass unser Gruppengefühl bei weitem nicht so ausgeprägt ist, wie das der Afrikaner. Wenn hier zu Lande Läufe mit Endbeschleunigung oder Steigerungsläufe absolviert werden, dann beginnen die Verlierer vom Vortag diese Beschleunigung schon kurz nach dem Start. Es wird ein gleichmäßig hohes Tempo gelaufen oder sofort "geknallt", nur um dem Mitläufer keine Chance auf einen weiteren "Sieg" zu geben.
Weiterhin entspricht ein solches ungeplantes Training nicht unserem Gefühl. Die meisten Läufer(innen) möchten auch im Training ein greifbares Resultat erzielen. Selbst der kleinste Zwischenhalt wird rausgestoppt und eifersüchtig darauf geachtet, dass das angesagte Tempo eingehalten wird: "Ich mache Tempo? Du bist doch die ganze Zeit einen Meter vorne!" Andererseits wird aber ebenso versucht, möglichst gute Resultate bei Tempoläufen zu erzielen. Eine im Verhältnis schnell durchgeführte Einheit bringt Läufer(innen)augen zum Glänzen: "Ging aber ab heute!" Dennoch ist aber auch hier die Stereotypie das Mittel der Wahl, um befriedigende Resultate zu erzielen.
Die Idee, die es galt umzusetzen, war zu probieren, unser Training so zu steuern, dass wir zumindest in Teilbereichen die härteste Belastung erst im Zustand der Ermüdung, d.h. am Ende der Einheit oder der Teilbelastung erreichen. Dabei wollte ich versuchen, dem Trainierenden eine möglichst große Tempoflexibiltät rund um das Renntempo "aufzuzwingen". Die selbstgestellte Forderung war: Das Training sollte
- der Stereotypie entgegenarbeiten,
- eine Endzeit und alle Zwischenzeiten vorgeben,
- uns nicht überlasten,
- ein Ausweichen oder Weglassen bestimmter Geschwindigkeitsbereiche nicht möglich sein und
- der Endabschnitt grundsätzlich schneller gelaufen werden, als die Durchschnittsgeschwindigkeit des geplanten Rennens.
In der nächsten Woche findest du hier, die praktische Entwicklung des Tempoflextraining für dich selber. Du kannst es aber schon einmal probieren. Dieser Rechner gibt dir alle Zeiten vor.