In der letzten Mail hatte ich schon angekündigt, dass wir uns in dieser Woche mit dem Vergleich von Laufzeiten beschäftigen werden. Das heißt, ich möchte dir ermöglichen, zum Beispiel von einer erzielten Halbmarathonzeit auf eine zu erwartende Marathonzeit zu schließen.
Leider muss ich dich gleich vorwarnen: Eine sichere Umrechnung der Zeit von einer Strecke auf eine andere gibt es nicht. Warum? Es gibt einfach individuelle Unterschiede. Die kann ich dir vielleicht klar machen mit dem nachfolgenden Beispiel.
Ein junger Mann von 29 Jahren, der jetzt gerade einmal ein Jahr läuft, möchte seinen ersten Marathon bestreiten. Er hat schon mehrere 10 km-Läufe hinter sich und seine Bestzeit über diese Distanz beträgt 45:00 min. Unbesehen könnte man den konservativen Faktor von 4,7 anwenden. Damit käme er über die 42,2 km auf eine Zeit von 3:31:30 h.
Im Gegensatz dazu steht ein 56-jähriger schon seit 19 Jahren laufender Mann mit genau dem gleichen persönlichen Rekord über 10 km von 45:00 min, der aber schon 16 Marathons hinter sich hat.
Klar ist, wenn wir bei ihm den gleichen Faktor von 4,7 anwenden, dann kommt auch hier eine 3:31:30 heraus. Aber würde das wirklich so zutreffen? Du ahnst es schon: Mit großer Sicherheit nicht! Was uns dazu sofort einfällt ist, dass der Ältere mehr Erfahrung hat und deshalb besser abschneiden könnte.
Aus meiner Erfahrung heraus schätze ich den unerfahrenen Athleten im Ziel mit einer unsicheren 3:36 h mit einem Faktor von 4,8 ein. Aber da er in seiner Unerfahrenheit noch einen oder mehrere Fehler machen wird, kommt dieser Mann wohl kaum unter 3:40 h.
Was erreicht nun der 56-jährige mit seiner Erfahrung aus 16 Marathons? Dem würde ich einen ziemlich sicheren Faktor von 4,65 geben. Damit kann er ohne Risiko eine Zeit von 3:29 erwarten. Aber selbst eine Endzeit von 3:25 h wäre keine Überraschung.
Läuft alles normal und es werden keine großen Fehler von dem relativen Anfänger gemacht, dann sind Differenzen von 15 min zwischen den beiden auf 10 km gleich schnellen Athleten keine Seltenheit.
In der Praxis kommt aber noch eine weitere Komponente dazu, die ich den Angst- oder Respektfaktor nenne. Im Jargon heißt er natürlich Sch...faktor. Jeder Anfänger hat einen Heidenrespekt vor seinem ersten 42,2 km-Wettkampf und wird ihn meist vorsichtiger angehen als es nötig ist. Daraus resultieren dann noch weit größere Differenzen als die 15 min.
Weiterhin sollte man nicht außer Acht lassen, dass auch die Trainingsmethodik eine Rolle spielt. Von ganz entscheidender Bedeutung ist dabei die längste im Training gelaufene Distanz. Es ist schon ein gewaltiger Unterschied ob man nun 30 oder 35 km auf der langen Runde läuft. Wer meint mit 30 auszukommen, wird bei gleichen Voraussetzungen immer eine schlechtere Endzeit erzielen als der, der sich mit den wöchentlichen 35 km vorbereitet.
Dazu kommen noch die monatlichen Gesamt-km in der Vorbereitungszeit und wie lange diese schon gelaufen werden. Ganz entscheidend ist auch, ob die 35 km noch mit einer Endbeschleunigung verfeinert werden oder nicht. Alle diese Maßnahmen führen zu einer verbesserten Ausdauer und einem längerem Stehvermögen. Oder mit anderen Worten: Diese Läufer(innen) lernen kaum jemals den "Hammermann" kennen.
Ich weiß, dass ich dich jetzt wohl ziemlich verwirrt habe. Aber leider sind die Umstände so, sie sind nicht zu ändern und darum müssen wir mit ihnen leben. So kann ich nur versuchen dir einen Rahmen vorzugeben, wie du deine Marathonzeit aus einer gelaufenen Zeit heraus planst.
Die nachfolgenden Ausführungen sollten dir eine kleine Hilfe sein:
Mögliche Marathonzeit
1. Dein durchschnittliches Marathon-Renntempo/km kannst du ermitteln, in dem du deiner durchschnittlichen km-Geschwindigkeit innerhalb eines 10 km Trainings-Tempodauerlauf 5 sec draufschlägst. Beispiel: 45 min 10 km im Tempodauerlauf sind 4:30 min/km + 5 sec = 4:35 min/km zu erwartender Durchschnitt über die 42,2 km.
2. 18 km Trainings-Testlauf im Marathonrenntempo. Die durchschnittlich gelaufene Geschwindigkeit über diese Distanz kann im Marathon-Wettkampf meist durchgelaufen werden, wenn mehr als 5 x Woche trainiert wird.
3. 2 x Halbmarathonzeit + 10 min ist eine ziemlich sicherer Ermittlung der möglichen Marathonzeit. Anfänger sollten 15 min nehmen. Erfahrene Greif-Clubmitglieder, die nach sechs- bis siebenmal in der Woche trainieren können bis auf 6 min herunter gehen.
4. Ermittlung über Faktoren mit der letzten 10 km-Wettkampfzeit.
A-Läufer(innen): Hervorragend ausdauertrainierte trainingsältere Läufer(innen) mit mindestens 5 Jahren Trainingserfahrung, gelaufenen 5 Marathons und Umfängen > 140 km/Woche: 10 km Wettkampfzeit x 4,55
B-Läufer(innen): Sehr gut ausdauertrainierte Läufer(innen) mit mindestens 3 Marathons und Umfängen > 120 km/Woche: 10 km Wettkampfzeit x 4,6
C-Läufer(innen): Gut ausdauertrainierte Läufer(innen) mit mindestens einem Marathon und Umfängen > 100 km/Woche: 10 km Wettkampfzeit x 4,7
D-Läufer(innen): Mäßig ausdauertrainierte Läufer(innen) mit mindestens einem Marathon und Umfängen > 80 km/Woche: 10 km Wettkampfzeit x 4,8
F-Läufer(innen): Schlecht ausdauertrainierte Läufer(innen) mit mindestens einem Marathon und Umfängen > 60 km/Woche: 10 km Wettkampfzeit x 4,9
Und als Letztes kann ich dir die nachfolgende kleine Bosheit nicht ersparen: Sind deine Faktoren noch schlechter als die der F-Läufer, dann solltest du noch weg bleiben von den 42,2 km. Und wenn du sie dennoch läufst und mit dem miesen Faktor endest, dann bist du für mich immer noch ein Jogger(in) und kein Marathonläufer(in).
Ich weiß ja, dass du mir jetzt virtuell an der Gurgel hängst. Drück nur, stört mich gar nicht, denn ich will dich nicht ärgern, sondern motivieren jedes Jahr eine Klasse aufzusteigen. Eine Zeitlücke für einen Tag Training mehr in der Woche findet sich immer. Es bringt dir auch schon etwas, wenn du jeden Trainingstag 2 km länger läufst. Du musst nur herauskommen aus deinen Puschen und in Wettkampfschuhen denken.
In der nächsten Woche klären wir an dieser Stelle die zeitlichen Verhältnisse zwischen 5 und 10 km und dem Halbmarathon.