Vor einigen Tagen rief mich ein besorgtes Greif-Club-Mitglied an: "Ich trainiere jetzt seit 14 Tagen nach deinen Plänen und die verlangen mir deutlich mehr ab, als das, was ich vorher trainiert habe. Ich kann das alles gut leisten. Was mich aber stört ist, dass ich trotz des vermehrten Trainings 2 kg zugenommen habe."
Dass dieser Mann ein Problem hat, ist klar. Da trainiert er schon mit erhöhtem Einsatz, fühlt sich gefordert und hofft nun, dass der unzweifelhafte verstärkte Kalorienverbrauch sich nun auch auf der Anzeige seiner Waage wieder findet. Und was passiert? Er schaut auf die Waage und fällt vor Schreck fast runter. Es folgt Ungläubigkeit, fluchen, schütteln der Waage und Verzagen.
So etwas kennen wir alle. Wenn der Zeiger des Gewichtsmessers nach oben geht, dann hassen wir ihn und schieben gerne einmal äußere als entscheidende Parameter vor. "Ach ja, ich habe ja noch den dicken Pullover an" oder "War ja noch nicht auf dem Klo."
Aber dieser Mann war sich sicher: Peter Greifs Training macht fett. Ob das stimmt, klären wir später. Vorher muss ich dir noch eine Geschichte erzählen, die zur Aufklärung betragen wird.
Ende der 80-er Jahre trainierte bei uns in der LG Seesen ein eineiiges Zwillingspaar. Große, wie man so schön sagt, stramme Mädchen. Schnell, ausdauernd und ehrgeizig. Nur auch wegen ihrer Größe etwas zu schwer für längere Strecken.
Dennoch entwickelten sich die G.-Zwillinge sehr gut und kamen in der deutschen Bestenlisten der weiblichen Jugend immer weiter nach vorn. Unser Plan war im Jahr 1991 im letzten A-Jugendjahr eine deutsche Meisterschaft über 3000 m oder mit der Mannschaft eine über 15 km anzustreben. Besonders Claudia, die leichtere von beiden war über 3000 m favorisiert, weil in diesem Jahr die meisten der bisherigen Konkurrentinnen in die Juniorenklasse aufrückten.
Nun war es aber genau das Jahr, in dem beide immer mehr weibliche Formen entwickelten. Aus den schlaksigen Mädchen wurden reife Frauen. Das hatte Folgen, die Jungen in unserer Trainingsgruppe drehten schier durch und die Zwillinge wurde schwerer.
"Nun denn Mädels, wenn es etwas werden soll mit der DM, dann müssen ein paar kg runter. Und jetzt in eurem letzten Jugendjahr müssen wir das Training in Richtung Ausdauer so oder so nach oben ziehen." So sprach der Trainer. Und die Mädchen folgten und trainierten mehr.
Nur eines klappte nicht, dies war die Gewichtsabnahme. Nun, so dachte ich, kommt alles noch. Denkste! Nichts passierte, die Damen nahmen kein Gramm ab. Ich rätselte, was war da los? Am Training konnte es nicht liegen, dort kämpften sie um jede Sekunde und scheuten keinen km.
Was war es aber? In einem Gespräch kam unter Tränen dann ein Geständnis: "Je mehr wir trainieren, desto schwerer werden wir." Ha? Schnell war mir klar und das wurde dann auch bestätigt, was in der Gedankenwelt der Zwillinge vorging:
Sie hatten mehr trainiert und sogar etwas weniger gegessen und das Ende vom Lied war eine Gewichtszunahme. Und da dies bei beiden geschah, verzweifelten sie. Weil sie keine andere Erklärung für die Gewichtszunahme fanden, vermuteten sie eine genetische Ausnahmeerscheinung bei sich und sanken noch tiefer in ihr seelisches Loch.
Dem folgte dann ein Frustessen nach dem Motto: "Ist doch alles egal, wir schaffen unser Ziel mit der Deutschen Meisterschaft so oder so nicht." Das war schlimm für die Mädchen und die Schlussfolgerung auch nachzuvollziehen.
Dir wird sicher jetzt langsam klar, dass es zwischen der Gewichtszunahme von dem Greif Club-Mitglied aus den ersten Zeilen und der von den Zwillingen ein Zusammenhang bestehen muss. Aber was erhöht das Gewicht bei vermehrtem und ungewohntem Training?
Dann sollten wir diesem Geheimnis einmal das Trikot ausziehen: Eine der ersten Reaktionen des menschlichen Organismus auf Training ist Wassereinlagerung im Blutplasma. Praktisch ausgedrückt heißt dies, das Blut wird dünner.
Der Körper spürt die vermehrte Belastung durch das ungewohnte Training, er wird gestresst. Aber er kennt auch eine Schnellhilfe, um diesen Stress zu mindern. Er nimmt Wasser auf im Blut und macht es damit dünnflüssiger. Er vermindert die Viskosität des roten Safts und damit fließt es leichter durch die Blutgefäße.
Und schon atmet alles auf. Das Herz hat nicht mehr so schwer zu pumpen und die Substrate, Energie und Sauerstoff kommen schneller und leichter an die Verbrauchsorte.
Die Thermoregulation (schwitzen) wird verbessert. Die Anzahl der Reaktionen ist so umfangreich, dass nicht genug Platz an dieser Stelle ist, um sie alle aufzuführen. Für uns bleibt festzuhalten: Immer wenn wir vermehrt und oder ungewohnte Umfänge oder Intensitäten trainieren, müssen wir vorerst mit einer Gewichtszunahme rechnen.
Das gilt auch nach Krankheiten oder Verletzungen, immer geht das Gewicht beim Neustart hoch. Das ist keinerlei Grund zur Beunruhigung, denn nach 4 Wochen greifen andere Mechanismen des Trainings und nach 6 Wochen ist diese ganze Gewichtsschweinerei verschwunden.
Das eingelagerte Wasser verlässt ohne Widerspruch deinen Körper wieder per Schweiß oder anderen bekannten Ausscheidungen. Das ist auch einer der Gründe, warum nach 6 Wochen Training dann plötzlich die Post abgeht und wir die Waage wieder lieben.
Schuldig bin ich dir noch das Ende der Geschichte der G.-Zwillinge. Im Laufe des Jahres 1990 geschahen nicht nur in der Politik, sondern auch im Sport dramatische Dinge. Der bisherige Rahmen des Sports der alten Bundesrepublik wurde gesprengt. Im Fall der G.-Zwillinge war es so, dass die übersichtliche Konkurrenz der weiblichen A-Jugend der Bundesrepublik, durch die der Mädchen aus der DDR aufgefüllt wurde.
Plötzlich musste eine völlig neue Rangordnung festgelegt werden. Die Mädchen aus dem Osten waren hervorragend, wenn nicht sogar professionell ausgebildet. Ihr Auftritt wurde ständig mit den Worten eingeleitet: "Wir kommen vom Club!"
Konnte von uns keiner verstehen. Wir kamen doch mit der LG Seesen auch von einem Club. Erst später wurde uns klar das "Club" in der DDR gleichbedeutend mit dem nationalen Kader war. Die G.-Zwillinge waren total verunsichert, dies auch durch die verschwiegene Art der Mädchen, mit denen sie bei jetzt vereinten Nationalmannschaftseinsätzen die Zimmer teilen mussten.
"Mit denen kann man gar nicht reden. Dier erzählen auch nichts über ihr Training." Na klar, diese Mädchen hatten gelernt das Schweigen in der DDR besser war als reden. Nur unsere Mädchen konnten sich keinen Reim daraus machen. Sie gaben innerlich auf und Frustfressen war wieder angesagt.
Bei einem Pflichtstart des gemeinsamen deutschen Jugendkader 1990 beim Nikolauslauf in Herdecke traten sie mit einer properen Figur und schlechter Form an. So wurden sie unter Wert geschlagen und aus war es mit der Leistungssport-Karriere der G.-Zwillinge.
Niemals wieder wurden sie bei sportlichen Veranstaltungen gesehen. Mir sagten sie, dass sie keine Chance sehen, gegen die "DDR-Mädchen" zu bestehen. Ich redete mit Engelszungen, dass sie doch erst einmal die Entwicklung abwarten sollten. Nein, wollten sie nicht und darum war Schluss mit dem Leistungssport.
Ja, dieses Geschehen war auch einer der Sargnägel, welches mithalf mein Engagement im Jugendtraining zu Grabe zu tragen. Einige Jahre späte, gab ich es auch auf, weil es einfach zu frustrierend war, immer wieder zu erleben, wie talentierte junge Leute ihre Leistungssportkarriere früh beendeten und dies aus völlig unterschiedlichen Gründen.
Und die Ironie des Schicksals bei den G.-Zwillingen war, dass keines der "DDR-Mädchen" ihres Jahrganges, vor denen sie sich so fürchteten, später eine Karriere im Leistungssport vergönnt war.
Aber das ist alles Schnee von gestern. Ich hoffe, dass ich dich nicht gelangweilt habe mit diesen alten Geschichten, aber ich finde immer wieder Parallelen, zwischen den heutigen und früheren Trainingsgeschehen. Wir Läufer(innen) ändern uns über die Generationen offensichtlich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass wir auch nur Menschen sind. Oder?