Bist du jemals in einem Rennen ausgestiegen? Einige von uns haben es getan, viele hatten auch den Wunsch dem Elend ein Ende zu machen, gaben aber dem Verlangen nicht nach, obwohl deren Leid genauso groß war, wie das der Aussteiger.
Es gibt eigentlich drei Gründe zum Aussteigen, davon ist auch nur einer wirklich von Werthaltigkeit. Das ist im Fall einer Verletzung oder einer sich anbahnende Verletzung. Nur diese beiden Gründe entschuldigen einen Ausstieg für die handelnde Person und auch für das Umfeld.
Der dritte Grund ist eigentlich gar keiner und wird in deinem Gehirn konstruiert. Die Motivation zu solch einem Ausstieg ist so bunt wie die Welt. Gerade eben las ich, dass Sabrina Mockenhaupt in Moskau bei der WM beim 10.000 m Finale ausgestiegen ist. Leichtathletik.de schrieb dazu am 12.8.2013:
"Plötzlich stand sie. Sabrina Mockenhaupt (LG Sieg) ist im Finale über 10.000 Meter bei den Weltmeisterschaften in Moskau (Russland) am Sonntagabend vorzeitig ausgestiegen. Gold holte die Olympiasiegerin Tirunesh Dibaba (Äthiopien) in 30:43,35 Minuten.
Flott ging Sabrina Mockenhaupt das Rennen an. In der Spitzengruppe um die dreifache Weltmeisterin Dibaba fädelte sich die 32-Jährige, die schon 36 Deutsche Meistertitel gewinnen konnte, auf den ersten Kilometern ein. Auf Dauer zu schnell für die Siegerländerin, die 3.000 Meter Zwischenzeit lag bei 9:20,85 Minuten.
Nachdem Sabrina Mockenhaupt die Spitzengruppe laufen lassen musste, hing sie alleine im Nirgendwo zwischen zwei Gruppen. Denn während die Gruppe vor ihr zu schnell war, war das Tempo der Verfolgergruppe, in die sie sich zwischenzeitlich zurückfallen ließ, zu langsam. Nach knapp 8.000 Metern stieg sie, an Position zehn liegend, aus."
Warum aber macht eine Athletin so etwas? Nur noch fünf Runden zu laufen und auf Platz zehn liegend, beendet sie das Rennen? Wie viele Läuferinnen dieser Welt hätten ihr Blut dafür gegeben auf diesem Rang in das Ziel zu kommen.
Es ist eigentlich ganz traurig für Mocki, dass sie diesen Sekundenbruchteil-Entschluss fasste. Dieser war weiter nichts, als ein Kurzschluss im Gehirn. Aus der gleichen Quelle wie oben zitiert, äußerte sie sich: "Ich habe heute die falsche Taktik gewählt. Ich war auf Grund meines Trainings so übermotiviert, dass ich wusste, ich kann etwas und dachte es geht locker. Dann war ich immer nach hinten am Schauen, da waren ja auch noch welche.
Ich hätte einfach so wie immer laufen müssen, von hinten. Dann hätte ich Körner gespart. So hat mich das im Kopf zerrieben: Nach vorne laufen oder doch hinter der Gruppe? Der Kopf war nicht bei der Sache, was Großes zu leisten. Für mich wäre eine Top-Ten-Platzierung etwas Großes gewesen. Die wäre drin gewesen. Ich habe es nicht umgesetzt. Vielleicht realisiere ich gar nicht, dass ich auch zu etwas Großem fähig bin oder traue es mir nicht zu."
Um es gleich vorauszuschicken, ich möchte Mocki hier nicht kritisieren, sondern ich fühle einfach mit ihr. Sie ist einfach eine kleine zarte liebenswerte und sehr emotionale junge Frau. Ich sehe in ihr immer noch das Kindliche, aus der Zeit als sie noch als Jugendliche lief.
In diesem Rennen hat sie einfach vergessen, mehrfache Schlachtpläne aufzustellen. Sie hat sich aufgrund ihrer guten Trainingsleistungen und in der Hoffnung eines moderaten Anfangstempos geglaubt, dass sie vorne mitlaufen könne. Eine Medaillenchance war aber für sie nicht drin. Aber der wichtige achte Rang, der auch eine besondere finanzielle Förderung bedeutet, wäre wohl möglich gewesen.
Ich möchte hier keine schlaumeiererischen Ratschläge geben, aber die drei Ziele, die sich jeder Athlet und jede Athletin vor einem Wettkampf zu Recht legen sollte, gelten insbesondere auch für solche Titelrennen. Immer und immer wieder muss man die verschiedenen Szenarien durchdenken und daraufhin Angriffs-und Abwehrverhalten planen.
Selbst ein Sturz oder Straucheln muss vorher infrage gestellt werden. Wer mit allem rechnet, nur nicht mit einem Sturz in so einem Rennen, - was aber in dem Kopf der Athletin eigentlich niemals passieren darf - der wird kaum eine Chance haben jemals wieder Anschluss zu finden.
Der Autor dieser Zeilen kann ein Lied davon singen. Mindestens zehnmal bin ich bei Wettkämpfen gestürzt, weil mir jemand von hinten in die Beine getreten hat. Das lag daran, dass meistens die Läufer um mich herum mindesten einen Kopf kleiner waren und somit auch kürzere Schritte machten. Somit kam es so oft zu diesen Karambolagen.
Weiterhin spielten meine Windschutzfähigkeiten eine Rolle. Wenn es von vorne kräftig wehte, rückte mir die Konkurrenz immer weiter auf die Pelle und schon haute mich wieder jemand um. Nicht mehr als 3 m verlor ich bei einem Sturz. Ohne Ausnahme, gelang es mir über die Schulter abzurollen und den Schwung mitnehmend wieder zu stehen.
Aber das war nun nicht der Fall bei Sabrina Mockenhaupt, sie stürzte augenscheinlich über ihre Psyche. In einem Sekundenbruchteil hatte sie wohl das Gefühl völlig allein zwischen zwei Gruppen zu laufen.
Man kann hier natürlich nur spekulieren, aber ein emotionaler Mensch wie sie, fühlt sich in einer solchen Situation allein gelassen, bar jeder Hilfe. Dazu kommt das Schwächegefühl, welches sich in einer solchen negativen Gefühlslage sofort meldet.
Auch das ist in der Regel noch nicht der Grund für den Ausstieg, sondern oft schießt dann noch blitzartig das Gefühl körperlicher Schmerzen durch den Organismus. Und dieses Gefühlsgemenge hängt dann sofort an der Leitung zum Gehirn und löst damit den Kurzschluss zum Ausstieg aus.
Und was dann folgt, ist schrecklich. Der Blick geht auf dem Boden nur für Sekunden und wenn man dann die Augen wieder hebt, sieht man das Feld uneinholbar davon eilen. Was dann folgt ist ein Gefühl einer unendlichen Traurigkeit und man kann nicht verstehen, wie es zu diesem Ausstieg kam.
Das ist der Moment im Boden versinken zu können oder das Stadion auf Flügeln verlassen zu dürfen. Die Seele hilft dann, indem sie nach rationalen Gründen sucht für das vorzeitige Beenden des Rennens. Meistens nimmt man sich dann eine Verletzung, die man vorschieben kann, um sich die erdachte Schande zu ersparen, die solch ein Ausstieg bei einem Weltmeisterschaft-Endlauf nach sich zieht.
Und das geschieht nicht nur in einem Endlauf, sondern auch in unserem Format. Vielleicht sogar bei einem mickrigen Volkslauf. Der Fantasie der Läufer und Läuferinnen sind keine Grenzen gesetzt im Konstrukt von schlimmsten Erkrankungen und den abstrusesten Verletzungen.
Hilfreich ist in diesem Moment auch das Erfinden von schweren Belastungen im Magen-Darm-Trakt. Schweres und oder verdorbenes Essen sind wunderbare Entschuldigungen für einen Ausstieg. Nicht aufschiebbare Darm- oder Blasenentleerung sind auch eine Top-Entschuldigung für so eine Aufgabe.
Alles das aber hat Sabrina Mockenhaupt nicht vorgetragen, sondern offensichtlich ist sie bei der Wahrheit geblieben. Ihr gelang es nicht in den wenigen Sekunden vor dem Ausstieg die Gedanken zu ordnen und schon war das Unglück passiert.
Du wirst dich sicher fragen, ob ich denn früher auch einmal ausgestiegen bin. Wenn das bei mir nicht auch so gewesen wäre, dann hätte ich diesen Text wohl nicht so schreiben können. Am Anfang meiner Karriere ging es mir auch so, wie es Sabrina in sich hinein gedacht hat. Diese Dinge waren dann aber im Griff zu kriegen und wurden ausrechenbar. Wegen Sekundenideen verließ ich niemals mehr die Bahn oder Straße.
Aber dennoch kam es ab und zu zu vorzeitigen Ausstiegen in Situationen, die mir als völlig aussichtslos erschienen und von tiefer Erschöpfung geprägt waren. In dem Moment, in dem der Ausstieg vollzogen war, durchfluteten schon Schmerzen meinen ganzen Körper. Mir war dann danach gar nicht mehr klar, ob nun die Erschöpfung oder die Schmerzen der Grund waren.
Natürlich wurden dann die Schmerzen vorgeschoben und nach außen verbalisiert. Diese Schmerzen waren aber nach dem Ausstieg wirklich vorhanden. An der Blase am Fuß, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte, litt ich so schmerzhaft wie unter einer Brandwunde.
In späteren Jahren dann erklärte die Wissenschaft das Auftauchen dieser plötzlichen Schmerzen nach Beendigung einer Belastung. Je intensiver und länger diese ist, desto mehr schüttet der Organismus Morphine und Endorphine aus.
Leider stürzt die Produktion dieser Hormone nach dem Stillstand sofort ab und alles Auah, welches im Rennen von den Schmerzlinderern unterdrückt wurde, meldete sich sofort und kreiselte durch den ganzen Körper.
Natürlich gab es auch Situationen, wo eine echte Verletzung auftrat und ich ein Rennen vorzeitig beenden musste und dies in dem Bewusstsein: "Wenn du jetzt hier weiterläufst, dann hast du anschließend drei Monate Trainingsausfall". Diese Momente waren ganz klar und dabei kam mir auch nicht ein einziges Mal der Gedanke, dass es besser gewesen wäre weiterzulaufen.
Und das möchte ich dir zum Ende noch mitgeben: Laufe um Himmelswillen nicht weiter, wenn deine Schmerzen dir signalisieren, dass es schlimm werden könnte. Auch bei organischen Missempfindungen sofort raus aus dem Rennen und Soforthilfe in Anspruch nehmen. Ein Organschaden ist nicht selten lebensbedrohlich. Ganz flapsig ausgedrückt: Wenn du dein Leben verloren hast, dann ist es auch vorbei mit den Bestzeiten.