Der Essen-Marathon ist nicht nur der älteste durchgängig veranstaltete 42,2 km-Wettkampf, sondern offensichtlich auch ein besonders gutes Pflaster für die Läufer und Läuferinnen des Greif-Clubs. Mit Kerstin Brüning und Tobias Sauter gab es auch schon zwei Gesamtsieger(in) in den letzten 10 Jahren.
Auch in diesem Jahr hatten sich einige unserer besten Kräfte entschlossen, die zwei Runden um den Baldeneysee zu laufen. Schon in den letzten beiden Jahren war ich immer dort vor Ort und betreute die anwesenden Spitzenkräfte vom Rad aus. Leider schien es heuer so zu sein, dass dies nicht noch einmal wiederholbar war. Meine Frau und ich planten an diesem Tag zu einem Wochenurlaub in Frankreich zu starten.
Aber da wir so oder so in Richtung Westen wollten, konnte ich meine bessere Hälfte dazu überreden mit nach Essen zu kommen, um speziell Robert Jäkel und Doro Frey (geb. Grupp) zu betreuen, die beide einen persönlichen Rekordversuch unternehmen wollten. Weitere Mitglieder waren am Start, die natürlich auch gleich mit gecoacht wurden.
Um es kurz zu machen, Robert Jäkel versuchte mit einem hohen 3:30 min/km Anfangstempo seinen persönlichen Rekord von 2:30 h zu knacken. Leider knackte er sich selber und war schon beim Halbmarathon "platt". Aber er beendete sein Rennen mit 2:35 und wurde Sieger in der M45.
Es ist natürlich tragisch. Robert will unbedingt die 2:30-Grenze unterbieten und er weiß, dass sein Alter ihm nicht mehr lange Gelegenheit dazu geben wird. Und so rannte er sich auch an diesem so perfekten Tag wieder einmal fest. Aber ich weiß es, Robert kann es und er wird wieder angreifen. Und wenn er fest daran glaubt, schafft er es.
Ganz anders entwickelte sich das Rennen im Damenbereich. Hier machte sich Dorothea (Doro) Frey Hoffnungen auf eine gute Platzierung. Sie fühlte sich stark und hatte schon in unserem diesjährigen Herbst-Trainingslager in Wolfshagen überragende Leistungen gezeigt.
Doro, mit einem persönlichen Rekord von 2:52:10 ausgezeichnet, ging mit einem glatten Viererschnitt das Rennen an. Aber vorne ging die Jagd los, als ob man den Wölfen entkommen wolle. Ganz besonders die Regensburgerin Fakja Hofmann machte Tempo wie Bolle beim Buletten essen. Ihr folgte mit meist 100 m Abstand Silvia Krull aus Detmold.
Schnell legten diese beiden einen Minutenabstand zwischen sich und Doro. Bei km 10 gingen gingen sie mit einer 37-er Zeit durch. Mein Schützling aber blieb nur knapp unter 40 min. Ich rief ihr die Zeiten der Konkurrenz zu und riet ruhig weiter zu laufen. Ich war überzeugt davon, dass beide Führenden dieses Tempo nicht durchstehen könnten.
So war es dann auch. Bald setze sich Silvia Krull an die Spitze und Fakja Hofmann wurde langsamer und Doro behielt konstant ihren Schritt weiter bei. So blieb es auch bis zur Hälfte des Rennens. Krull 01:20:22, Hofmann 01:21:40 und Frey 01:23:30. Aber es war klar zu sehen, dass jetzt die Karten neu gemischt wurden.
Sylvia Krull wurde zwar langsamer. Es war aber für Doro schon klar, dass sie den Rückstand zu diesem Zeitpunkt von über 3 min auf die Führende kaum wett machen können würde. Dazu müsste die Detmolderin schon einen völligen Einbruch erleben. Anders sah es mit der Regensburgerin aus, sie sank so langsam in sich zusammen, um dann ihre Laufzeit für jeden km progressiv zu steigern. "Doro du musst kämpfen, die Zweite packst du", rief ich ihr zu.
Ja, kämpfen. Es war im Juni 1995, die damals noch unverheiratete Doro Grupp wacht morgens auf und bricht in Panik aus. Sie kann auf dem rechten Auge nichts mehr sehen. Gar nichts mehr. Kein Licht und Schatten, alles bleibt schwarz. Völlig verunsichert wird sie vom ärztlichen Notdienst in ein Krankenhaus überwiesen. Hier geht die Verunsicherung weiter. Niemand hat eine Idee, warum Doro nicht mehr sehen kann.
Verschiedene Untersuchungen werden durchgeführt. 3 Tage lang keine Resultate. Sie bleibt auf einem Auge blind. Dann öffnet sich die Tür und drei freudestrahlende Ärzte treten ans Bett: "Frau Grupp, wir wissen nun endlich was ihnen fehlt. Sie haben Multiple Sklerose". Für Doro bricht eine Welt zusammen. Sie kann mit dieser Erkrankung nichts anfangen, weiß nichts über deren Auswirkungen. Und sie ist völlig geschockt von dem Auftritt der Mediziner.
Die Ärzte erklären ihr die Erkrankung. Plötzlich erkennt sie, dass sie schon seit 3 Jahren MS hat. Da war die taube Wange, die sie auf einen Zahnarztbesuch schob, der urplötzlich unbewegliche Rücken stammte vermeintlich von der Arbeit mit ihrem Reitpferd. Jetzt aber wird alles klar.
Klar wird ihr von den Ärzten auch gemacht, dass sie nur eine 70%-ige Chance hat auf ihrem Auge wieder sehen zu können. Es fällt Doro schwer sich vorstellen zu können, welche Chancen ihr im Leben bleiben. Aber nach 4 Wochen gehen die Krankheitssymptome zurück. Sie kann wieder normal sehen.
Aber jetzt beginnen die Mediziner ihr Werk. Es wird Doro verboten sich anzustrengen und jede körperliche Belastung zu meiden, sich nicht hohen Temperaturen auszusetzen und auch nicht in die Sauna zu gehen. Sie soll sich selbst ein Medikament gegen schubförmige MS spritzen. Nach jeder dieser Spritzen geht es ihr aber schlechter. Sie setzt diese Spritzen ab.
Gut geht es Doro zu dieser Zeit, wenn sie Aerobic im Studio betreibt. Irgendwann versucht sie sich auch einmal auf dem Laufband und das macht ihr Spaß. In diesem Studio gibt es auch einen Lauftreff. Diesem schließt sie sich an und muss nun hören, wie ihre Mitläufer hauptsächlich von ihren bestrittenen tollen Rennen berichten.
Und so beschließt sie, auch inspiriert vom Lauftreffleiter Dieter Rebstock, der als Einziger von ihrer Erkrankung weiß, einen Halbmarathon zu laufen. Doro hat große Angst vor diesem Rennen. Was wird passieren? Die Ärzte hatten ihr eine solche Belastung grundsätzlich verboten. Aber sie wollte unbedingt wissen, was in einem solchen Wettkampf passiert.
Und es geht gut. Doro fühlt sich großartig und sie trainiert weiter. Bald läuft sie ihren ersten Marathon in Freiburg. Diesmal hat sie noch mehr Angst. Aber egal, sie will wissen was sie kann. Und sie beendet ihr erstes 42,2 km-Rennen in 3:39 h.
Wieder von Dieter Rebstock motiviert tritt sie am 11.07.2004 in den Greif Club ein. Und ab dann nimmt alles seinen Lauf. Die Rekordzeiten füllen nun schon die Seiten der Leonberger Heimatzeitung und bald schon läuft sie unter 3 h.
Schübe erleidet sie in dieser Zeit nur kleine. Missempfindungen in der Hand und anderen Körperteilen sind die Folgen, aber Doro Frey kämpft sich dennoch die Leistungsleiter weiter nach oben. Aber 2007 wieder ein etwas größer MS-Schub. Lähmungen in der Hand und Gefühlsstörungen sind die Folge, aber sie verschwinden nach einigen Wochen wieder.
Und Doro lässt das Laufen nicht los. Sie trainiert weiter und gewinnt Rennen um Rennen. Bald steht ihr Marathonrekord auf 2:52:10. Nun werden auch die Offiziellen im DLV auf sie aufmerksam. So ist sie bald in der Ultranationalmannschaft. Und sie wird Deutsche Meisterin der DUV über 50 km und wagt sich nun auch an die 100 km, immer an gedenk der Worte der Mediziner: "Sie dürfen sich nicht anstrengen!"
Über die 100 km wird sie im Jahr 2008l Zweite in der nationalen Meisterschaft. Aber das Ultratraining bekommt ihr nicht. Sie bekommt eine Haglundferse an beiden Füßen. Das Training wird zur Qual. Im April 2009 wird sie an der einen Seite operiert, im Januar 2010 an der anderen. Schnell wird sie wieder gesund. Nicht nur das, sie wirkt gesünder, strahlender. Schon im März läuft Doro im Trainingslager in der Türkei wieder schnelle Zeiten. In diesen 14 Tagen entwickelt sie sich sprunghaft.
Und nun wagt sie sich abermals an Wettkämpfe und nimmt auch mit ihrem Mann Peter an unserem Herbst-Trainingsurlaub in Wolfshagen teil. Die gleichklassigen Männer stöhnen nur, Doro zeigt ihnen die Hacken. Und schon zwei Wochen später rennt sie in Karlsruhe ihre erste Bestzeit nach den Operationen. Auf der Halbmarathonstrecke springt sie von 1:21:35 auf 1:19:29.
Die Leonbergerin ist glücklich, ihre Erkrankung hat sich nun drei Jahre nicht mehr gemeldet. Drei Jahre, in dem sie gegen alle medizinische Ratschläge verstoßen hat und 1000-de von km gelaufen ist. Eine Nachuntersuchung bei einem neuen Arzt bringt diesen zum Staunen, dass sie trotz ihrer mit dem Rollstuhl drohenden Erkrankungen diese Leistungen erbringen konnte.
Er ist der Erste, der ihr nun rät weiter zu laufen. "Wenn Ihnen das gut tut, dann machen sie weiter so wie bisher. Niemand weiß wie lange sie es noch können." Diese Gedanken gehen Doro durch den Kopf, als sie in Essen sich schnell der zweitplatzierten Fakja Hofmann nähert. Diese zeigt zu diesem Zeitpunkt alle Anzeichen einer Resignation.
Mit hängenden Schultern und den Blick zum Boden gerichtet drückt sie eine Schwächephase aus. Doro läuft zu ihr auf, sofort kommt der Kopf der Regensburgerin wieder hoch, sie nimmt das Tempo von Doro auf und läuft mit. Bis dahin alles normal, das machen die Überholten häufig, aber meist schaffen sie knapp nur 100 m mitzuhalten und resignieren dann.
Aber an diesem Tag passiert etwas, was ich noch nie erlebt hatte. Fakja Hofmann lief nicht nur mit, sie griff an und trennte sich wieder von Doro. Uns Fahrradbegleiter fehlten die Worte. Einer davon aber: "Das muss ich jetzt aber nicht verstehen oder?" Ja, musste er nicht, denn es war zu überraschend was da ablief.
50 m Vorsprung wurden von der Regensburgerin schnell erlaufen. Ich signalisierte Doro ruhig zu bleiben und ihr Tempo weiter zu laufen. "Die kommt wieder zurück." Und tatsächlich, die Kraft reichte erwartungsgemäß nur noch für gut einen km "Schaulaufen", dann war der Kampfgeist gebrochen und Doro schnell vorbei.
Diese zeigte in keiner Sekunde eine Schwäche und als ich hochrechnete das statt der angepeilten 2:48 sogar noch eine 47 machbar war, drehte Doro noch einmal auf. Im Ziel zeigte die Uhr dann auch eine 2:47:52 an. Leider war dieser Zeitmesser nicht korrekt mit der offiziellen Zeitnahme koordiniert.
So fand sich dann eine 2:48:05 in der Ergebnisliste. Um mehr als 4 Minuten hatte sich die Leonbergerin gesteigert. Sie wurde Zweite in der Gesamtwertung und Siegerin in der W35.
In Bildmitte Doro Frey, links der ehemalige 800 m Weltmeister Willi Wülbeck und rechts Essen-Marathonchef Gerd Zachäus. Foto: Borka
Für mich war dieses Rennen von Doro ein ganz starkes emotionales Erlebnis, bei dem ich schwer mit den Tränen zu kämpfen hatte. In Kenntnis der sportlichen Lebensgeschichte dieser Läuferin, berührte mich ihr Erfolg ganz tief. Es war einfach ein Wunder. Und so strahlte Doro auch im Ziel.