Dies ist die Fortsetznug des Textes "Marathontempo wissenschaftlich", der hier an gleicher Stelle am 19.07.2016 veröffentlicht wurde:
2. Was man hat, das hat man – oder etwa nicht?
Eine Analyse der „offenbarten“ Renntaktiken anhand faktischer Rennverläufe beim Berlin Marathon 2015
Mit freundlicher Unterstützung der SCC Events GmbH
Juli 2016
http://www.blumento.de/DL/BM2015.pdf
Keywords: Renntaktik, Marathon, Endbeschleunigung
© Reiner Braun 2016
Fortsetzung:
Typologie der Renntaktik
Lemminge: Jeder fünfte Läufer (19%; Abbildung 5) überlebt sein Anfangstempo nicht annähernd und stürzt sich daher wie die Lemminge ins Verderben: Die Einbruchrate auf den ersten 25 km liegt bei mehr als 23 sec/km. Dazu zählen vor allem Frauen und über 50-Jährige. Die Zielzeit der Lemminge liegt meist über 4:30 h. Vermutlich wollen die alten Haudegen ihrem Körper mehr abringen, als er noch leisten kann.
Übermütige: Schon vor dem Hammermann ist für jeden sechsten Läufer (16%) die Jagd zu Ende: 11 bis 23 sec/km bricht er ein. Beliebt ist diese Taktik in allen Altersklassen – vor allem jenseits der AK 45 – und bei Frauen etwas mehr als bei Männern. Bis zum Ziel brauchen die Übermütigen meist mehr als 4:00 h.
Sammler: Die meisten Läufer sind Sammler (38%). Sie werden beim Kilometersammeln höchstens 11 sec/km langsamer, manche sogar bis zu 1 sec/km schneller als zu Beginn. Auch diese Taktik ist in allen Altersklassen beliebt, vor allem in den stark besetzten AK 35 bis AK 45, bei Männern etwas mehr als bei Frauen. Das Ziel erreicht das Gros der Sammler unter 4:00 h.
Jäger: Jäger stellen die zweitgrößte Gruppe (23%). Sie lauern zunächst ihren Opfern auf, werden auf Kilometer 15 bis 25 bis zu 12 sec/km schneller und packen dann zu: Diese vor allem in der AK 45 und den Altersklassen darunter beliebte Taktik trifft man bei Männern eher an als bei Frauen. Sie führt ebenfalls meist zu einer Nettozeit unter 4:00 h.
Los-Schlurfer: Sie verhalten sich zunächst recht träge, können im Rennverlauf aber um mehr als 12 sec/km zulegen. Dabei handelt es sich nur um eine kleine Gruppe (5%) vorwiegend jüngerer Läufer unter AK 30, vermutlich unerfahrene Marathonis. Männer und Frauen halten sich die Waage. Trotz der beachtlichen Beschleunigung rächt sich das anfängliche Geschlurfe: Typische Finisherzeiten liegen jenseits der 4-Stunden-Marke.
Abbildung 5: Läufertyp nach Geschlecht, Zielzeit und Altersklasse
Quelle: SCC Events / Berlin Marathon 2015
Welche Taktik bringt Erfolg?
Sammler und Jäger gehören eindeutig zu den schnelleren Läufern. Aber das muss nicht notwendig der Taktik geschuldet sein. Es könnte auch am größeren Männeranteil im besten Marathonalter liegen, der sich in diesen Gruppen zusammenfindet. Also muss geprüft werden, ob diese Taktiken auch dann noch zu besseren Zeiten führen, wenn man um Alter und Geschlecht bereinigt! Mit speziellen statistischen Verfahren ist dies möglich. Und das kommt dabei raus: Der statistisch „genormte“ M45er deutscher Nationalität benötigte für den Berlin Marathon 2015 eine Zeit von 3:50 – wenn er zur Gruppe der Jäger oder Sammler gehörte (Abbildung 6). Mit der Los-Schlurf-Taktik war dieser Normläufer dagegen 19 Minuten (1.173 sec) länger unterwegs, als Übermütiger sogar 22 Minuten (1.347 sec) und als Lemming überquerte er die Ziellinie erst eine Stunde nach den Sammlern und Jägern (3.590 sec).
Abbildung 6: Regression auf die Zielzeit – alle Läufertypen
Quelle: SCC Events / Berlin Marathon 2015
Aber gibt es wirklich keinen Unterschied zwischen Sammlern und Jägern? Oder sind die beiden Gruppen vielleicht einfach zu weit gefasst? Legen wir eine Lupe an. Und tatsächlich, eine detaillierte Untersuchung nur mit Läufern dieser beiden Gruppen kommt zum Ergebnis, dass das Optimum fast genau an der Grenze zwischen Sammlern und Jägern verläuft. Unser 45-jähriger Normläufer braucht demnach nur 3:46 Stunden, wenn er seine Pace bis Kilometer 25 exakt konstant hält (Abbildung 7). Und diese Finisherzeit verschlechtert sich schon um eine Minute, wenn er auf den ersten 25 km nur 2 sec/km schneller wird (zu langsam losgelaufen) oder 3 sec/km langsamer wird (zu schnell losgelaufen).
Abbildung 7: Regression auf die Zielzeit – nur Jäger und Sammler
Auswirkung Einbruchrate auf Zielzeit (nur Jäger und Sammler)
Einbruchrate (e) = Veränderung Pace auf km 16-25 gegenüber km 1-10 (Abb. 7b)
Quelle: SCC Events / Berlin Marathon 2015
Was lernen wir daraus?
Ein bekannter Trainer propagiert den Negativ-Split. Demnach sollte das Tempo auf den ersten 25 km um 7 sec/km steigen (Peter Greif: „Count-Down-zur-Bestzeit“). Ist diese Empfehlung nun widerlegt? Vermutlich nicht. Denn die präsentierte Analyse hat ein entscheidendes Manko: Sie baut allein auf Daten zur „offenbarten“ Taktik. Wir wissen nicht, ob die Taktiken so geplant waren oder ob sich die Läufer nach dem Start und im Laufe des Rennens zum „falschen“ Tempo hinreißen ließen. Und selbst wenn alles nach Plan verläuft: Jeder halbwegs erfahrene Läufer kennt zwar sein realistisches Tempo. Aber kennt er es auf die Sekunde genau? Und wer rechnet sich vor dem Wettkampf seine Form nicht gerne schön?
Von der Ziellinie rückblickend mag aus der Sicht des Statistikers also das konstante Anfangstempo die richtige Wahl sein. Von der Startlinie vorausblickend dürfte sich aus Läufersicht aber dennoch eine gewisse Zurückhaltung beim Anfangstempo auszahlen. Denn eines zeigt die Untersuchung auf jeden Fall: Es kommt auf Sekunden an. Schon minimale Abweichungen in der Anfangsphase werden am Ende mit etlichen Minuten bestraft – und zu schnelles Loslaufen stärker als zu langsames.
Abbildung 8: Platzierungsverbesserung auf der zweiten Hälfte
Quelle: SCC Events / Berlin Marathon 2015
Und seit der Fußball-EM wissen wir es ohnehin besser: Für die Selbstver-marktung zählen weniger die Tore (vulgo: Zielzeiten). Was da zählt, ist die packing rate! Und tatsächlich ist doch nichts schöner und motivierender als das Überholen in der zweiten Halbzeit. Diese Wertung gewinnt zwar die Los-Schlurf-Taktik mit einer durchschnittlichen Platzierungsverbesserung um 2.910 Plätze ab der Halbmarathonmarke (13%; vgl. Abbildung 8). Gleichwohl verbessern sich – bei schnelleren Zielzeiten – auch die Greifschen Jäger noch um 10%, während Sammler dann nur noch 2% vorankommen. In diesem Sinne: Wir packen das!