Du hast sicher schon oft genug gehört, wenn Läufer oder Läuferinnen nach einem Wettkampf versuchen, ihre Leistung schön zu reden. Dabei entfalten sie eine gnadenlose Effizienz in Richtung Ausreden.
Zurzeit, während ich diese Zeilen schreibe, laufen wir in der Türkei in Side-Sorgun unsere Tempoeinheiten auf einem fünf Meter breiten Fußweg mit Verbundsteinpflaster. Die Laufstrecke ist 2,5 Kilometer lang und leicht kupiert. Es sind zwei leichte Anstiege von etwa sechs bis sieben Höhenmetern zu bewältigen.
Und so liefen wir gestern dort auch eine zehn Kilometer Tempolaufeinheit. Dabei darf niemand eine Uhr tragen und auch keinen Pulser. Jeder Teilnehmer muss vorher angeben, wie schnell er die Strecke laufen kann.
Dies ist die erste Tempoeinheit, und sie wird genutzt, die "Hackordnung" in der Gruppe festzulegen. In früheren Jahren haben wir versucht, eine Tempovorgabe zu machen, was aber sinnlos war, denn die neue Konkurrenz reizte zum Wettkampfverhalten.
Und man glaubt es kaum, dass es einigen bei diesem Training sogar gelingt, eine Bestleistung zu erzielen. So hatten wir auch bei dieser Einheit eine junge Dame, die ihre Bestzeit deutlich unterbot.
Aber, aber, es waren andere enttäuscht, weil sie die erwartete Zeit nicht laufen konnten. Und so wurde der Trainer gelöchert. "Was meinst du, wie schnell ich auf einer flachen Strecke gewesen wäre? Denn die Anstiege waren doch ziemlich schwer."
Fast mit verbaler Gewalt wollten einige aus mir eine Aussage herausziehen, die festlegte, dass diese Strecke mindestens einen Malus von einer Minute fordert. Ein Teilnehmer, der diesen Kurs noch nicht kannte, war richtig böse und meinte: "Wenn ich gewusst hätte, wie schwer diese Strecke ist, dann hätte ich auch eine ganz andere Zeit angegeben. " Was heißen mag: "Auf einer flacheren Strecke wäre ich deutlich schneller gelaufen."
Nun ja, man verliert wirklich etwas Zeit auf den Anstiegen. Vergessen wird aber bei solcher Art von flachen Anstiegen, dass es dahinter auch wieder runtergeht. Man kann sehr schnell diese ganz leichten Gefällestrecken herunter laufen und verliert in der Gesamtheit kaum Zeit. Wir wissen, dass dieser Kurs, trotz seiner kleinen Hügel, schnell ist.
Aber es ist wohl uns Läufern angeboren, dass wir aus Training und Wettkämpfen mehr heraus lesen wollen und können. Und dabei ist das oben angeführte Beispiel noch sehr im Rahmen der Normalität.
Es ist kein Witz, wenn mich eine Dame anschreibt und wissen möchte, wie schnell sie denn gelaufen wäre, wenn nicht der Wind auf der gesamten Strecke von vorne gekommen wäre. Bei dieser Frage kamen mir fast die Tränen, aber auch nach Rückfrage bestand diese Frau auf ihrer Aussage: "Wir hatten an jeder Stelle leichten Gegenwind!"
Nach kurzem Überlegen war festzustellen, dass diese Frau recht hatte. Sie war ziemlich schnell und wenn wir einmal annehmen, dass es völlig windstill war und sie in einem vier Minuten Tempo lief, dann hatte sie auf der gesamten Runde ständig 15 Kilometer Gegenwind.
Sie war aber ziemlich fanatisch und rechnete sich dann tatsächlich aus, wie schnell sie hätte laufen können, wenn sie keinen Gegenwind gehabt hätte.
Du kannst mir glauben, ich habe hier keinen Witz gemacht. Aber gelacht habe ich doch darüber.
Erfahrene Läufer wissen ganz genau, dass man in einer Gruppe laufend, deutlich Kraft sparen kann. Hier wird der selbst erzeugte Gegenwind von dem Führenden abgefangen. Dieser Effekt wird umso größer, desto schneller das Lauftempo ist.
Der Bremseffekt des Gegenwindes steigt nicht linear, sondern im Quadrat. Aus diesem Wissen heraus werden bei Spitzenmarathons auch die so genannten Tempomacher eingekauft. Sie sollen dem erwarteten Sieger zu einer Spitzenzeit verhelfen.
Das klappt auch meist sehr gut, aber manchmal wächst der Tempomacher über sich hinaus und siegt vor dem vermeintlichen Favoriten. Die Frage, die ich mir immer wieder stelle ist: Hat jetzt der Tempomacher dabei doppeltes Geld verdient? Einmal für seine Tempomacher-Funktion, zum zweiten für den Sieg?
Das nur nebenbei. Der Wind kann aber einen Wettkampf erheblich beeinflussen. In eigener Sache kann ich darüber ein Lied singen. Ich startete 1974 zu meiner ersten deutschen Marathonmeisterschaft in Husum. Der Wendestreckenkurs war flach und auf dem Hinweg hatten wir einen wunderbar starken Rückenwind.
In meiner damaligen Unerfahrenheit lief ich los, als wenn es kein morgen mehr gibt. Mit einer damaligen persönlichen Bestzeit von 2:41 h kam ich an der Wende mit einer 1:09 h an. Das war herrlich, meine Träume schwangen sich in höchste Gefilde hinauf.
Leider ging es auf dem Rückweg nicht nach oben, sondern direkt nach unten in die Hölle. Der noch vor kurzem so angenehm empfundene Wind bremste uns Läufer brutal ab. Der mit der größten Segelfläche im Rennen ausgestattete - das war meine Person - bekam nun die Rache des Windes zu spüren.
Der vorher noch allzu angenehme Schiebewind steigerte sich auf dem Rückweg zu einem ausgewachsenen Sturm, der gnadenlos die Kräfte aus den Beinen zog und die Psyche mit jedem Kilometer mehr zerquetschte.
Die Endzeit war dann 2:39 h. Aber was ich danach alles erlebte, möchte ich hier nicht noch einmal niederschreiben, denn es war wirklich schrecklich und schmerzhaft. Nur zwei Dinge möchte ich erwähnen, das war: Schüttelfrost wegen Unterkühlung und Blut in der Blase, weil nichts getrunken.
So war das in der Anfangsphase der Marathonzeit. Wir wussten noch nicht einmal, dass wir vorher und/oder beim Rennen trinken mussten. Es war ziemlich kalt an diesem Tag und geschwitzt haben wir nicht. Warum sollten wir dann auch trinken?
So dachte man damals, und wir können alle froh sein, dass es nicht mehr so ist wie im letzten Jahrtausend. Vieles hat sich zum Guten gewandt, aber der Wind, der kommt immer noch ständig von vorne.