Du triffst einen dir bekannten Läufer und beginnst den üblichen small talk: "Hallo, wie gehts?" um dann die alles entscheidende Angstfrage zu stellen: "Was willst Du laufen?" Eigentlich erwartest du nun auf Deine Frage die Antwort einer in etwa geplanten Laufzeit deines Gesprächspartners. Was dann aber folgt ist die unendliche Leidensgeschichte eines offenbar schon halbtoten und nur noch dahinschlurfenden Gelegenheitsläufers, der sich wohl vorschnell beim Marathon angemeldet hat, obwohl er garnicht in Form dafür ist.
"Im Frühjahr lief es noch ganz gut, aber dann hatte ich plötzlich so ein Ziehen im Oberschenkel. Orthopäden und Physiotherapeuten haben alles versucht und konnten nicht helfen. Eigentlich wollte ich mindestens 80 km pro Woche in der Verbereitung laufen, jetzt waren es nur 30-40 und ohne Tempo. Irgendwann wurde es besser, aber dann war ich im Urlaub. Du weisst ja, wie es mit Familie ist. Da habe ich dann auch nicht richtig trainieren können".
Seine Geschichte rührt dich zutiefst. Aber du hast ja eigentlich noch keine Antwort bekommen und fragst nochmal, da du dich ja auch gern orientieren möchtest ob du an ihm dran bleibst oder dem Versehrten getrost weglaufen kannst: "Das ist bedauerlich, aber was willst du unter diesen Umständen denn laufen?"
"Naja, ich habe ja kein Tempo trainieren können, ich gehe erstmal locker an." Schon etwas genervt fragst Du letztmalig: "OK, aber hast Du denn gar keine Zeitvorstellung?" Dann endlich von ihm: "Naja, mehr als 3:45 h werde ich nicht schaffen. Ausserdem, hast du keinen Wetterbericht gehört? Es soll warm werden." Das bringt dich jetzt zum Wahnsinn! Dieser Trockenshirt-Jogger und Laktat-Allergiker hat locker die 3:20 h drauf und gibt nun eine solche Schmuse-Prognose ab, die bei ihm nun wirklich nur eintreten wird, wenn alle Widrigkeiten der Läuferwelt in diesem Rennen zusammen kommen!
Aber Psychologen werden womöglich bestätigen, daß es sich hier um ein weit verbreitetes und wohl auch normales Verhalten handelt. Wer seine Ziele nicht zu hoch setzt, kann auch nicht versagen. Und wer erst garnicht sein Umfeld davon in Kenntnis setzt, wird dort auch sein Gesicht nicht verlieren. Aber eigentlich ist doch nichts Schlimmes dabei. Ein Marathon ist eine außergewöhnliche und nicht bis ins letzte Detail steuerbare Laborleistung. Zuviele Faktoren kommen zusammen und wirken auf die Endzeit ein. Ein wirklich optimales Marathonrennen wird es wohl nur 2-3 mal im Läuferleben geben.
Habe also nur Mut, Dich von Deinen 3 Zielen, die Du hoffentlich im Kopf hast, zu Deinem höchsten Ziel zu bekennen. Ansonsten prägst du Dir schon von vornherein Dein Minimalziel ein und versuchst gar nicht erst, Deine Top-Leistung zu bringen.
Nach einigen Jahren der Marathon-Abstinenz wollte ich im September 2003 in Münster endlich wieder einen Lauf unter 3 Stunden schaffen. Im Frühjahr verletzt, war die Vorbereitung nicht ganz optimal, jedoch deuteten die Trainingsleistungen auf ein knappes Unterbieten der 3 Stunden Grenze hin. Es würde jedoch eng werden und deshalb müßten alle Bedingungen stimmen. Im Vorfeld habe ich mein Vorhaben überall verkündet und stand gewissermaßen unter äußerem Erwartungsdruck, welcher mich bereits in der Konsequenz des Trainings positiv beflügelte. Es folgte ein Rennen, wie es wohl fast jeder von uns schon mal erlebte. Die ersten Kilometer liefen gut, bei km 16 spürte ich, daß ich bereits mit fast voller Kraft laufen mußte, um den erforderlichen Kilometerschnitt zu halten. Beim Halbmarathon war mir klar, daß ich heute die 3 Stunden nicht schaffen werde. Bei km 25 gab ich den ernsthaften Versuch auf, lief aber noch so schnell es ging durch. Mit 3:04 h verfehlte ich mein Ziel deutlich und stellte mich zu Hause den "was war los?"-Fragen. Na und? Zur Erinnerung: Der Marathon ist keine Laborleistung!
Natürlich gibt es Menschen, die mit diesem scheinbaren äußeren Druck auf keinen Fall zurechtkommen. Sie würden eher das Laufen aufgeben, als mit auf das Foto Deiner Laufgruppe in der Lokalzeitung zu kommen, die Euch als Vorankündigung bei der Abreise zum Marathon zeigt. Sie trainieren gut, starten aber einfach nicht obwohl sie möchten. Denn ansonsten würden sie eine Leistung erbringen, die womöglich vom Umfeld bewertet wird.
Für diejenigen, die mit äußerer Erwartung ein Problem haben, hier mein ernsthafter Tip: Starte doch einfach mal geheim irgendwo weit weg, wo dich niemand kennt. Vergeigst du den Lauf, erzähle es einfach niemandem. Bist du mit Dir zufrieden, kannst du allen deine Urkunde auf den Tisch knallen.
Ich selbst bin auch schon so verfahren. 1988 und 89 versuchte ich mich als 19-jähriger erstmals an der 100 km-Strecke und bin in den ersten beiden Anläufen gescheitert. Mentale Schwäche, klarer Fall. Körperlich war alles in Ordnung. Kurzfristig lud mich ein Freund zu einem 100 km-Lauf auf der Bahn ein. Etwas, was ich nie machen wollte. Ein 20 km Testlauf auf der Bahn am Folgetag war grauenhaft, aber ich sagte für 100 km zu. Nachdem ich aber schon 2 Versuche über die vollen 100 km nicht geschafft habe, entschied ich, niemandem von diesem 3. Versuch zu erzählen. Weder meine Familie, mein läuferisches Umfeld noch meine damalige Freundin weihte ich ein. Für den Samstag meiner Abwesenheit fiel mir irgendeine Ausrede ein und ich startete. Was für eine Entspannung!
Bei km 86 bekam ich eine gewaltige mentale Krise, wie ich sie vorher und nachher bis heute nie wieder erlebte. Ich entschloss mich, aufzugeben, zum 3. Mal in Folge. Der Veranstalter fand jedoch in diesem Moment die passenden Worte und ich machte meinen Entschluss rückgängig. Es sollte aber meine Freundin angerufen werden und einige Freunde, damit diese vorbei kommen. Der Lauf fand in der Nähe statt und sie konnten es kaum fassen, als sie von wildfremden Leuten angerufen wurden mit der Aufforderung "Komm vorbei, Hansi läuft 100 km und ist gleich im Ziel". Das Finish wurde zum Triumphzug. Die entspannten Rahmenbedingungen waren ganz bestimmt ein Hauptgrund für den persönlichen Erfolg.
In der heutigen Zeit habe ich mich entschlossen, nicht mehr geheim zu starten. Der äußere Druck beflügelt mich eher als dass er mich hemmt. Sollte sich mal eine Niederlage ergeben, ist dies undramatisch, sofern man nicht resigniert.