Ein Rivale(in) ist wirksamer als Doping!
110 kg zeigte die Waage. Das war selbst für 195 cm zu viel! Was tun? Mein Entschluss stand schnell fest: Jetzt gehe ich joggen. Die Fanfaren in meinem Schädel verkündeten die Aufbruchstimmung und schon schob ich meine Kilos über eine Laufrunde auf einem renaturierten Abraumhügel im rheinischen Braunkohlenrevier. Auf dem Kunsthügel, die Kippe genannt, gab es eine 3 km lange flache Runde, die nun von meinen Füßen verdichtet wurde.
Es war alles flach dort oben und ich lief eigentlich ganz gut, so dachte ich. Es gab keine Steigungen und so spürte ich die Last meines Gewichts nicht übermäßig. So walzte ich mehrmals in der Woche diese Runde und bemerkte aber bald mit Unbehagen, dass sich auf diesem Kurs noch andere laufender Weise bewegten. Zwei etwa Gleichaltrige begegneten mir oft, wir waren zu fast identischen Zeiten aktiv. Das sind "richtige" Läufer, vermutete ich. Dort, wo ich mich mühsam mit Stampfschritten nach vorne schraubte, waren diese beiden locker unterwegs, mit präzisen balletgleichen Schritten liefen sie mit einer für mich schier unglaublichen Geschwindigkeit.
Ich schämte mich wegen meines Schneckentempos und ob meines Waldboden-Schädigungsstils. Am schlimmsten waren dabei aber die Überholvorgänge. Wie aus dem Nichts tauchten Stimmen hinter mir auf und ich wusste sofort: Sie kommen schon wieder! Nur nicht umdrehen, gelangweilt tun und wegsehen. Die vollständige Ignoranz gelang leider nicht, denn die beiden grüßten und ich musste zwangsweise antworten, was ich dann auch betont muffelig tat.
Es war schrecklich. Ein Minderwertigkeitskomplex drohte. Ich malte mir aus, dass es ihnen gelingen könnte, mich bei dem Absolvieren der 3 km zweimal zu überrunden. Alles nur nicht das, diese Typen werden austaktiert! Ich lief jetzt die Runde anders herum und nun konnten sie mich nicht mehr überholen. Innerlich klopfte ich mir auf die Schulter: Super, die bist du los. Kaum ausgedacht, kamen sie mir schon entgegengerast. Das war ja noch schlimmer, jetzt schossen sie wie lebende Kanonenkugeln auf mich zu und ich musste lange Sekunden den Anblick ihres perfekten Laufstils ertragen.
Aber ich konnte jetzt mit lügender Körpersprache gegenhalten. Da die beiden immer quatschten, hatte ich vor einer Begegnung immer genug Zeit mich zu präparieren. Wenn ihre Stimmen nahten, regulierte ich mein Keuchen auf ein kaum wahrnehmbares Schnaufen, nahm die Knie hoch und erhöhte genau 2 Sekunden vor dem ersten Sichtkontakt mein Tempo um 50%. Nun grüßte ich in überlegener Manier zuerst lässig die Hand hebend.
Wenn sie mich passiert hatten, schaltete ich noch eine Schamfrist von 3 Sekunden nach und klappte dann körperlich zusammen. Nur mühsam röchelte ich den fehlenden Sauerstoff in meine Lungen und schliff mit den Füssen nur noch in Millimeterhöhe über dem Grund. Es dauerte Minuten bis ich mich wieder erholt hatte. Dann die schlimme Erkenntnis: "Du triffst sie beim Entgegenlaufen ja zweimal pro Runde!" Der zweite schnell folgende Auftritt als gleichwertiger Gegner, saugte mir die Kraft so aus den Muskeln, so dass ich nach der Showeinlage erst einmal ein paar Meter gehen musste.
So klappt dies nicht, überlegte ich. Die Show muss weitergehen, aber wie? Während ich noch über die Lösung dieses Problems nachsann, ereignete sich zwei Tage später etwas geradezu Entsetzliches. Sie kamen mir wieder entgegen, mit sorgfältiger Inszenierungskunst bereitete ich mein Schauspiel vor und überhöhte mein Tempo auf das, wie mir schien nötige imponierungsträchtige Maß. Mit schreckgeweiteten Augen musste ich aber mit ansehen, wie beide Konkurrenten auf meiner Höhe wendeten und mit mir in die gleiche Richtung liefen.
Panik überfiel mich, ich war nicht weit davon entfernt in meine Laufhose zu nässen. "Sag mal, wir könnten doch auch zusammen laufen", fragte der eine, der wie ich später erfuhr Reinhold hieß. Das war die Rettung! "Nein, nein, das geht nicht, ich habe nichts drauf, ihr seid doch viel schneller!" Oh welches Glück, jetzt durfte, gar musste ich Schwäche zeigen, um der Aufforderung zum gemeinsamen Training zu entkommen. Sofort senkte ich meine Laufgeschwindigkeit auf die überlebensnotwendige Dosis mit den Worten ab: "Schaut mal wie langsam ich bin, wir passen einfach nicht zusammen."
Aber ich hatte keine Chance! Gemeinsam schafften es die beiden, der andere trug den Namen Karlheinz, mich umzudrehen und mir die Zustimmung zu einer gemeinsamen Joggingeinheit abzuringen. Das Einzige, was ich durchsetzen konnte, war, dass wir nur eine Runde laufen würden. Der Tag kam und Reinhold, der schnellere der beiden versprach: "Keine Angst, wir laufen ganz langsam!" Auch das wird noch viel zu schnell für mich, befürchtete ich und das Adrenalin flutete in meinen Blutkreislauf.
Der Tag der Wahrheit kam und ich plante sorgfältig den Ablauf dieses Rennens. Bevor ich mich aber zum Tiefstart nieder hocken konnte, liefen Reinhold und Karlheinz völlig unspektakulär los und ich hinterher. Das ist Sprint, du wirst sterben, so fühlte ich. Meine Rivalen fragten: "Ich das Tempo richtig?" Ist ok, stammelte ich raus und rang nach Luft. Der Luftnot wurde ich Herr bis ca. zur 1000 m-Marke, dann war nur noch mein Hecheln zu hören. Meine Gegner schauten mich mitleidig an: "Sollen wir langsamer machen?" Ich schüttelte den Kopf und stampfte weiter hinter den beiden her.
Bei km 2 hoffte ich, dass mein Tod möglichst schnell eintritt, um mich von meinen Schmerzen zu erlösen. Die letzten 1000 m erlebte ich in einem Dilemma von Sauerstoffnot, Muskelpein, Aufgebenwollen und Durchhaltewillen. Doch ich erreichte das Ziel nur 10 m hinter meinen Widersachern. Fiel dort angekommen aber sofort um und rang auf dem Boden liegend um mein Überleben. Ich fühlte mich wie ein Ballon ohne Inhalt und durch meine Bronchien rauschte die Luft wie glühende Lava. Niemals wieder solche Schmerzen, schwor ich mir und dann sagte Reinhold den verhängnisvollen Satz: "Er liegt da wie ein Maikäfer auf dem Rücken!" Und beide lachten sich dabei fast in Stücke.
In mir kam eine kaum jemals da gewesene Empörung auf, diese weckte eine Wut, die sofort wieder Energie in meine Gummimuskeln fließen ließ. "Ihr Ärsche, formulierte mein Gehirn, das vergesse ich euch nie. Euch mache ich fertig! Und wenn ich bis zum Umfallen trainieren muss, aber der Tag kommt an dem ich auch schneller als Reinhold bin." Damals, das war 1972, war ich mir nicht klar, welches hohe Ziel ich mir gesteckt hatte. Wir waren die 3 km-Runde in einer Zeit von knapp über 12 min gelaufen und ich fand das elend langsam.
Reinhold Steven wurde später mein erster Trainer und auch mein erster Holger Meier. Holger Meier ist in der Laufszene das Synonym für den Kontrahenten Nr. 1. Das ist der Mensch, an dem man ein ganzes System von Erfolg versprechenden Strategien und Gegenmaßnahmen aufbauen kann. Mein Entschluss, diesem Holger Meier seinen überheblichen "Maikäferspruch" und das Auslachen zurückzugeben, veränderte mein ganzes Leben: Es war der Startpunkt in den Leistungssport.
An jedem möglichen Tag, sah man nun einen einsamen Läufer über der "Kippe" hetzen. Immer im höchstmöglichen Tempo, einmal nur 3, aber manches Mal auch 9 km laufend. Nach 3 Monaten war ich runter auf 85 kg und Reinhold und Karlheinz waren kein Thema mehr, ich beherrschte sie über jede Distanz.
Warum ich ihnen das alles erzähle? Wenn sie als Jogger(in) auch einmal davon träumen ein "richtiger" Läufer(in) zu werden, dann brauchen sie einen Holger Meier. Solch ein Holger hat auf ihre Leistung eine stärkere positive Auswirkung als 5 kg Nahrungsergänzungsmittel oder 3 Trainingspläne von Joggers World. Und Rivalen kosten nichts, die bieten sich bei jeder Gelegenheit an, halten den Geist wach und die Leistungsbereitschaft hoch.
Wenn sie keinen haben, können sie sich so einen Holger ganz schnell schaffen. Geht ganz leicht: Sie laufen im Dunkeln im Park, vor ihnen eine Gestalt. Das ist er! Langsam heran laufen und kurz hinter ihm einmal laut mit den Füssen trappeln. Wenn er jetzt sein Tempo erhöht, dann ist es der Richtige! Denn nun geht die Hackerei los, wenn er sofort losrast wie vom Wildschwein gejagt, ist er wirklich brauchbar. Je nach dem mit welchen unakzeptablen Tricks sich dieser Typ gegen das Überholtwerden schützt, steigt sein Holgerfaktor. Läuft er ihnen sogar weg und lässt später auf dem Parkplatz noch einen Spruch los, dann haben sie ihren Schatz gefunden: Einen echten Holger Meier!
Sehr gute Holgers kann man auch beim gemeinsamen Training finden. Der Findungsprozess läuft immer ähnlich: "Mensch lauf doch nicht so schnell!" "Was ich, du bist es doch, der immer Tempo macht!" "Ach, nun bin ich es wieder. Wer ist denn vorgestern unseren Hausberg hoch geknallt wie ein Irrer, obwohl wir abgemacht hatten langsam zu laufen?" "Das musst du mir gerade vorwerfen. Sonntag beim Volkslauf hast du dich doch 30 min in meinem Windschatten ausgeruht, um mich dann abzuziehen, wo doch abgemacht war gemeinsam in das Ziel zu laufen!" Und so weiter...!
Mit solchen Dialogen kann man sich einen Holger Meier ganz wunderbar erarbeiten. Die locken die leckersten Charaktereigenschaften hervor, die Leistungs-Motivationen selbst für die lahmsten und friedvollsten Seelen schaffen.
Nicht nur im Sport funktioniert die Sache mit dem Holger Meier, auch die Wirtschaft braucht die Kontrahenten. Wissenschaftler haben ermittelt, dass sich die Firmen am schnellsten entwickeln, die das stärkste Feindbild von einem oder mehreren Mitbewerbern besitzen. Wie stark so ein Feindbild ausgeprägt sein kann, musste ich vor gar nicht langer Zeit erleben.
Eine junge Läuferin, die ich trainiere, arbeitet als Wirtschaftsingenieurin bei VW. Nun kauften wir uns in unserer Firma einen Opel Vectra Caravan, den ich auch privat nutze. Als nun die VW-Angestellte diesen Opel sah, rastete sie völlig aus: "Mir wird schlecht, wenn ich diese blaue Kiste sehe!" Sie war gar nicht zu beruhigen und lamentierte gebetsmühlenartig alles denkbar Schlechte über die Firma Opel herunter. Sie war gar nicht zu bremsen, ihre Augen glühten und sie winkte ständig abwertend in Richtung der "blauen Kiste". Oh, dachte ich, VW hat ja auch einen Holger Meier. Fazit: Wenn die alle bei VW so sind, hat Opel niemals eine Chance in Deutschland Marktführer zu werden.
Man braucht nicht lange zu suchen, um weitere sportliche Rivalitäten zu finden: Dortmund und Schalke 04 sind das Paradebeispiel in der Bundesliga. Die lieben sich so sehr, dass sie einander nicht einmal beim Namen nennen. Bei Duellen zwischen diesen beiden braucht deren Trainer seine Mannschaft nicht eine Sekunde zu motivieren.
Unsere Eisschnellläuferinnen Claudia Pechstein und Anni Friesinger wären bestimmt nicht so absolute Weltklasse-Athletinnen, wenn sie sich nicht von ganzen Herzen hassen würden. In unserer Laufszene ist die Rivalität von Dieter Baumann und Stephane Franke auch ein Musterbeispiel mit welcher Inbrunst der persönliche Holger Meier bekämpft werden kann.
Aber lassen sie mich diesen Schleiffuß von Holger Meier auch einmal loben. Wenn wir ihn nicht hätten, dann wäre unser Leben traurig. Ein richtig schöner fieser Holger ist ein wunderbarer Aus-dem-Sesselholer und schafft die Motivation für mehr Bewegung und Potential in unserem Dasein. Heureka: Um die wirtschaft- und sportliche Leistung Deutschlands zu steigern, brauchen wir kein Hartz V, keine Steuersenkung und keinen Subventionsabbau, wir benötigen einfach mehr widerwärtige Holgertypen.