Der Titel "Was Chaos-Holger nie erlebt" hat dich sicher neugierig gemacht. Wahrscheinlich hast du dich auch gefragt, wen ich mit diesem Namen eigentlich meine. Aber keine Angst, diesen Typen kennst du, unter Umständen kannst du dich bedauerlicher Weise auch zu seiner Kategorie zählen. Unterstelle ich dir natürlich nicht.
Jeder Lauftreff und Leichtathletikverein hat mindestens einen Chaos-Holger. Das ist jemand, der kaum jemals sein Training plant. Erst wenn er im Läuferdress vor der Tür steht, beginnt er sich über sein Training Gedanken zu machen. Meist kennt er nur "was Schnelles", "was Ruhiges" oder "was Langes".
Wenn du ihn auf dem Parkplatz vom Lauftreff triffst und ihn fragst, was er denn heute vorhat, dann wird er dir als Antwort eine der drei oben genannten Trainingsvarianten nennen. Passen diese nicht in dein Programm, kannst du ihn schnell umstimmen in deines mit einzusteigen.
Denn Chaos-Holger (im nachfolgenden CH genannt) läuft nicht gern allein und ist froh, wenn er jemand hat, mit dem er trainieren kann. Er ist meist beliebt, kann aber auch ein erbärmlicher Laufterrorist sein, der nur darauf wartet am Berg Tempo zu machen, wenn er deine Schwäche spürt. Denn er hat immer was "drauf", denn kaum jemals gibt er sich völlig aus.
Eine verzweifelte Mail
Weil CH so ist, kennt er auch keine Schwäche- und was entscheidend ist, auch keine Stärkephasen. Das heißt, er kennt keine Hochform und damit auch keine Formkrise. Ihm geht es ganz anders als dem Greif-Clubmitglied, welches mir in der letzten Woche schrieb und über eine schlechte Regenerationsfähigkeit klagte:
"Hallo Peter, ich schreibe dir weil mich ein paar Sorgen umtreiben und ich hoffe du kannst mir da helfen.
Die Sorgen stellen sich wie folgt dar: sowohl nach Wettkämpfen (da ganz besonders) als auch nach den Tempoeinheiten bin ich immer ordentlich angeschlagen und brauche nach meiner Einschätzung immer sehr lange um mich zu erholen und dann wieder vernünftig trainieren zu können.
Sprich nach dem Halbmarathon-WK am Samstag den 28.5. abends habe ich mich die nächsten Tage mit Regenationseinheiten im KM-Tempo 5:30 bis 6:30 gequält um am Donnerstag in einem 10 km-WK eine enttäuschende 39:45 (Vorjahr 38:46) zu laufen. Seitdem bis heute Morgen wieder Regenerationseinheiten 5:30 - 5:59 (10-25 km Strecken) und starkes Schwächegefühl. Heute Morgen dann alles wieder besser erste 10 km in ca. 5-er Schnitt danach Schmerzen in der Kniekehle.
Ähnliche Regenerationsprobleme hatte ich auch 14 Tage davor nach einem 5 km WK in 18:15. Übertraining glaube ich eher nicht, mein morgendlicher Ruhepuls erreicht ungekannte Tiefen von aktuell 44 Schlägen pro Minute.
Grundsätzlich habe ich häufig Probleme mit der Erholung nach Belastung. Nach meinen Erinnerungen und meinen Trainingsaufzeichnungen hatte sich das allerdings in diesem Frühjahr stark gebessert. Sowohl nach dem Marathon, als auch dem Vorbereitungs-HM und dem 10 km Bestzeit-Wettkampf war ich sehr zügig wieder in der Lage wieder gut und vor allem nach deinem Plan zu trainieren.
Dies ist leider im Moment gar nicht gegeben, da ich kaum bis gar nicht das Regenerationstempo schaffe ist aktuell kein Denken daran irgendwelche von den schnelleren Einheiten zu starten. (Generell habe ich mich dann meist erst den längeren Einheiten und dann den Tempoeinheiten genähert.)
Letztens habe ich dann auch tatsächlich mal 14 Tage am Stück so ziemlich nach Plan trainieren können. Wobei mir die kürzesten Einheiten noch am wenigsten gelungen sind. Allerdings habe ich durch die verbesserten WK-Zeiten jetzt 2-Stufen höhere Zielzeiten und die Panik im Blick wie ich das je schaffen soll.
Frage ist eigentlich hast du noch geniale Ideen wie ich meine Erholungszeiten optimieren kann? Vielleicht ist das auch mal ein Thema für einen Newsletter. Ich denke aus lauter Frust schon ein wenig über einen Seniorenplan nach.
Was tue ich aktuell alles zur Erholung:
- Eiweißshake nach jeder Einheit
- Omega3 / Vitamine / L-Carnitin / Magnesium
- Relativ häufig warme Bäder
- Massagen der Beine ca. 1 mal pro Woche
- Versuch mehr zu schlafen (schwierig wegen stressigem Job und viel Reiserei)
- Kompressionssocken und Hosen (kurz)
Ansonsten versuche ich mich natürlich an deiner gepredigten Läuferaskese zum Gewichtsverlust, was aber eigentlich nicht so erholungs-kontraproduktiv sein sollte.
Für jeden zielführenden Vorschlag wäre ich schon sehr dankbar."
Ja, wenn man diese Zeilen liest, dann denkt man sofort an schweres Übertraining oder auch eine Erkrankung. Aber wer eine lange Erfahrung hat, kann die Symptome deuten.
Die Leistungen zusammengefasst
Dazu müssen wir uns erst einmal eine Übersicht verschaffen, wie Training und Wettkämpfe von G.M. in der letzten Zeit verliefen.
02.11.2010: G.M tritt in den Greif-Club ein und bekommt seinen ersten Trainingsplan, der einen vierwöchigen Regenerationszeitraum vorgibt. Alles ganz leicht, meistens langsamer als es der Läufer gewohnt ist.
29.11.2010: Jetzt startet der 44-jährige mit dem nächsten Plan 1. Phase der Vorbereitung. Das Programm ist leicht zu erfüllen, verlangt aber doch schon etwas von dem Athleten. Obwohl in diesem Trainingsplan darauf hingewiesen wird, dass man nicht schneller laufen sollte, als es die Zeitvorgaben vorschreiben, kommt es an diesem Punkt schon zu dem oft alles entscheidenden Fehler.
(Die nachfolgenden Zeilen beruhen auf Fakten, die beschriebenen Ideen, Gedanken und Gefühle stammen aber nicht aus Angaben des hier erwähnten Sportlers, sondern beruhen auf meinen Erfahrungen als Trainer und Läufer. P. Greif, 14.06.2011)
Der Läufer verfällt in eine Euphorie, hatte er doch vor seinem Greif-Plan einen mächtigen Respekt. Denn was man so hörte, müsse man sich doch ganz schön "schinden", um die Trainingsvorgaben zu erfüllen.
Nun aber spürt er, dass er deutlich schneller laufen kann als es sein Plan vorgibt. So denkt er: "Aah, das Training wirkt schon, ich kann viel schneller laufen, als ich es eigentlich müsste." Und setzt den Gedanken in die Tat um.
23.01.2011: Und er hat Erfolg, wird bestärkt durch einen neuen persönlichen Halbmarathonrekord von 1:26:10 auf 1:25:50. Jetzt weiß G.M. schon, dass er auf dem richtigen Weg ist. So legt er noch eine Schippe drauf und brät den Planvorgaben regelmäßig und voller Stolz eins über.
20.03.2011: An diesem Tag versenkt er seine HM-Bestzeit aber so richtig, in dem er sie von 1:25:59 auf 1:23:50 schraubt. So einen Leistungssprung gibt es nur, wenn man schon sehr gut in Form ist. Solch eine Form sollte er aber erst einen Monat später haben. Innerhalb dieses Zeitraums Ende März scheint G.M. schon auf dem Plateau seiner Hochform zu sein. Dort kann er sich mit Geschick sechs Wochen halten. Was auch klappt, dies ist aus den nachfolgenden Bestzeiten herauslesbar.
Mit seiner HM-Leistung hat G.M. seine Temposteuerzeit aus dem Trainingsplan stark unterschritten und bekommt eine neue deutlich schnellere. Jetzt beginnt das Training für ihn erheblich belastender zu werden. Er muss sich wahrscheinlich schon schinden, um seine Vorgaben zu erreichen.
17.04.2011: G.M. erzielt einen neuen persönlichen Marathonrekord von 3:01:00 nach 3:02:27. Diese Zeit hat ihm sicherlich keinen Spaß gemacht. Denn wer den HM unter 1:25 h läuft sollte auch klar unter 3 h im Marathon kommen. So können wir festhalten: seine Form schwankt oder er hat einen oder mehrere taktische Fehler begangen. Letzteres ist bei einem Marathon eigentlich Usus.
01.05.2011: Unser Läufer nutzt nun präzise den temporären Formanstieg 14 Tage nach dem Marathon, in dem er einen 10-er läuft und sich von 38:46 auf 37:54 min steigert. Diese Zeit ist sogar etwas mehr wert, als die von dem HM aus dem März.
18.05.2011: Noch einmal schlägt G. zu. Er läuft die hochwertigste Zeit des Frühjahrs, in dem er seinen Hausrekord von 18:49 auf 18:15 min setzt. Ein glänzendes Resultat.
"Ich kann nicht mehr"
Dies lässt hoffen, dass es so weiter geht, aber diese Hoffnung enttäuscht ihn. Er schafft nun Ende Mai, wie oben beschrieben die Trainingsvorgaben nicht mehr. Das macht ihn sicher wütend und er wird mit aller Kraft versuchen gegen den Kraftverfall anzukämpfen. Damit bringt er seine Form endgültig in das Grab. Nicht einmal die Regenerationsangebote nimmt sein Organismus an.
Seine Trainingszeiten entfernen sich immer mehr von den Planvorgaben. Und jetzt kommen seine Holgers im Training aus dem Sack in dem er sie bisher gesteckt hat und "zersägen" ihn. Diese "Fuzzys" machen ihn nieder, sie, die er schon so gut im Griff hatte. Klar das G.M. der Verzweiflung nahe ist.
Natürlich ist ihm zu helfen, aber die Form vom frühen Frühjahr bekommt er nicht zurück. Er sollte jetzt versuchen seine Trainingsläufe deutlich langsamer zu bestreiten, das kann er auch über seinen Trainingsplan machen, in dem er sich z.B. drei Schonstufen einbauen lässt.
So erholt sich sein Körper wieder und das Gefühl der Schwäche verschwindet langsam. Aber richtig erholen kann er sich im vierwöchigen Regenerationszeitraum im Juli. Und danach geht die Post dann noch einmal so richtig ab. G.M. wird - wenn er gesund bleibt - in der Herbstsaison noch ein paar schöne neue persönliche Rekorde erzielen.
Was hätte G.M. besser machen können?
Nun bleibt nur noch die Frage, was hätte er denn anders machen können, um auch noch im Juni eine Form zu haben? Dazu hätte er sich im Winter etwas mehr an die Planvorgaben halten müssen, dann wäre der Bereich der guten Form etwas flacher ausgefallen. Die Hochform würde dem etwas stärker folgen und der Abfall im Juni milder ausfallen.
Aber das ist natürlich alles nur hypothetisch, weil ich gar nicht genau weiß, was der 44-Jährige nun genau gemacht hat. Zumindest kann man festhalten, dass er im Grunde eine großartige Saison hinter sich hat. Viel besser hätte es nicht kommen können.
Ich muss hier noch einmal darauf hinweisen, dass ich diese Beschreibung über das Training von G.M. gewählt habe, um einmal allgemein darzustellen, wie es einem ehrgeizigen und intelligenten Läufer ergehen kann, wenn er sich nicht erklären kann, warum sein Körper so reagiert, wie er reagiert hat.
Und eines wird dir sicher klar werden, Chaos-Holger wird so etwas nie erleben. Er wird nie so tolle Resultate erzielen und und auch niemals in einem solchen Formloch liegen wie jetzt G.M.
Und bei dem Schreiben dieses Textes sind mir alle Sünden meiner Vergangenheit wieder eingefallen. Damals, vor mehr als 35 Jahren, als niemand so richtig Ahnung vom Training hatte und ich selbst von einer Trainings-Periodisierung so weit entfernt war, wie ein Hund vom Futter sparen, erging es mir oft so wie G.M.
Ich lag in Leistungslöchern, aus denen ich auch mit einer Leiter nicht hätte herausschauen können. Nur diese Formtiefen haben mich dazu gebracht, über Training und seine Auswirkungen nachzudenken. Bis dahin dachte ich, es wäre nur nötig möglichst schnell und lange zu rennen.
Ansonsten: Wenn du Chaos-Holger triffst beglückwünsche ihn, weil er so gut trainiert, dass er niemals in diese Leistungslöcher fallen wird. Dass er auch niemals seine mögliche Leistungshöhe erreichen kann, verschweigst du besser aus humanitären Gründen. So´n Holger ist ja auch nur ein Mensch.
PS: Du wirst dir sicher Gedanken machen, warum ich G.M. nicht riet sofort in die Regeneration zu gehen, wenn er jetzt schon so platt ist. Wenn er dies so machen würde, dann käme Anfang Juli seine Kraft wieder zurück und dann kann er nicht anders: er würde wieder schneller laufen.
Und daraus folgt wiederum eine Frühform, mit dem Resultat, dass er sich Ende September oder Anfang Oktober schon wieder im Bereich einer schwankenden Form befindet. Und davor soll er sich hüten, denn wenn er nochmals eine Marathonzeit über 3 h läuft, dann kündige ich ihm die Freundschaft. ;-)