Die wohl heißeste und meist diskutierte Entwicklung im Laufbereich der letzten 2 Jahre sind die sogenannten Carbon-Racer, d.h. Wettkampfschuhe mit in der Sohle integrierter Carbonplatte. Im Ergebnis dieser neuen Schuhe explodieren die Zeiten seit 2019 auf allen Wettkampfstrecken im Straßenlauf. Man kann zu den Entwicklungen stehen wie man will, rückgängig zu machen ist sie kaum noch. Dazu hat sich auch der Weltleichtathletikverband zu spät dieser Thematik angenommen.
Im Rahmen des Breaking2-Projekt entwickelte Nike einen ersten Prototyp mit im Sohlenmaterial integrierter durchgehender im Zehenbereich hochgezogener Carbonfaserplatte.
Bild 1: Explosionszeichnung des Nike-Prototypschuhs, der ein neu entwickeltes Zwischensohlenmaterial und eine durchgehende Carbonfaserplatte mit Vorfußkrümmung enthält, die in die Zwischensohle eingebettet ist. (Quelle: A Comparison of the Energetic Cost of Running in Marathon Racing Shoes, 2017)
Die Eigenschaften von Carbon (kohlenstofffaserverstärkter Kunststoff) sind geringe Masse bei gleichzeitig hoher Steifigkeit und Festigkeit. Die Carbonfaserplatte nimmt bei jedem Schritt die Aufprallenergie auf und gibt sie beim Abrollen wieder ab. Die hochgezogenen Zehen im Vorfußbereich soll dabei die Abrollbewegung unterstützen. Das Prinzip erinnert etwas an die Prothesen unterschenkelamputierter Athleten bei den Paralympics. Hier an der Leichtathletikweltverband allerdings dem Start dieser Athleten zusammen mit Athleten ohne körperliche Einschränkung einen Riegel vorgeschoben...
Das "Breaking2-Projekt" endete 06.05.2017 in Monza mit einer Zeit von 2:00:25 h für Eliud Kipchoge, der dabei diesen Prototyp von Nike trug.
Mit der "INEOS 1:59 Challenge" gab es am 12.10.2019 in Wien einen zweiten Versuch die 2 h Marke im Marathon zu knacken. Hierbei kam das allseits bekannte Nike-Modell, welches kurz danach auf den Markt gemacht wurde, zum Einsatz. Eliud Kipchoge blieb in einem 100% durchgeplanten Event in 1:59:40 h als erster Marathonläufer unter der 2 Stunden-Marke.
Danach gab es praktisch kein Halten mehr. Im Dezember 2019 unterbot Joshua Cheptegei (Uganda) in 26:38 den 10 km Weltrekord aus dem Jahr 2010 um 6 Sekunden. Nur einen Monat später im Januar 2020 schob Rhonex Kipruto (Kenia) in 26:24 min nochmals eine deutliche Steigerung hinterher.
Im Oktober 2020 liefen in Valencia gleich 4 Athleten unter der gültigen HM-Weltrekordzeit von 58:01 min. Kibiwott Kandie (Kenia) pulverisierte dabei den alten Rekord in 57:32 min nahezu.
Sämtliche Schuhhersteller haben in kürzester Zeit nachgezogen und ihren eigenen Carbon-Wettkampfschuh auf den Markt gebracht. In den verschiedensten Ausführungen. Mit durchgehender Carbonplatte, mit geteilter Carbonplatte, größerer oder geringerer Sprengung, als Wettkampf- oder auch Trainingsschuh.
Seit die Schuhe auch für mehr oder weniger leistungsorientierten Hobbyläufer verfügbar sind, purzeln auch hier verstärkt die Bestzeiten. Läufer die bereits viele Jahre unterwegs sind und ihres Bestzeiten bereits vor einigen Jahren aufgestellt haben, verbessern sich plötzlich noch einmal zum Teil dramatisch. Natürlich ist das für diese Läuferinnen und Läufer sehr erfreulich. Vergleichen lassen sich die Laufzeiten nicht mehr mit denen aus den Jahren bis 2018.
Letztens las ich einen Kommentar eines bekannten Trainers, der meinte: „diese Schuhe machen aus einem mittelmäßigen Läufer einen guten Läufer“. Gemeint waren Läufer, die statt 2:12 h oder 2:13 h plötzlich unter 2:10 h laufen. Die absoluten Zeiten täuschen im Spitzenbereich etwas. Denn die Differenz zur Weltspitze aus Afrika bleibt ja gleich, weil diese Athleten auch 2 min schneller laufen.
Eine Studie mit den Schuh-Prototypen im Vergleich zu normalen Wettkampfschuhen aus dem Jahr 2017 mit 18 Läufern und diversen Tests und Messungen bei 14, 16 und 18 km/h kam zu dem Ergebnis, dass durchschnittlich 4% Energie bei gleicher Geschwindigkeit verbraucht wird. Können diese 4% eingesparte Energie ganz oder teilweise in höhere Geschwindigkeit umgesetzt werden, dann gibt es schnellere Laufzeiten.
Der Schweizer Ex-Marathonläufer Viktor Röthlin verglich in einem Test sechs Carbonmodelle mit seinem Wettkampfschuh, mit dem er 2008 seinen schnellsten Marathon (2:07:23) gelaufen war. Während je drei Minuten lief Röthlin jeweils ein für ihn lockeres Tempo mit 12 km/h bzw. 5 Minuten pro Kilometer sowie ein für seinen aktuellen Formstand zügiges Tempo mit 17,1 km/h (Durchschnitts-Pace von 3 Minuten 30 Sekunden pro Kilometer) und verglich Pulswerte und Energieverbrauch anhand einer Atemgasanalyse.
Beim lockeren Lauftempo boten die Carbonschuhe im Vergleich zu Röthlins altem Wettkampfschuh keine Vorteile. Beim zügigen Tempo war der Unterschied aber enorm. Im Ergebnis des Tests wurde angegeben, dass Röthlin mit seinem aktuellen Fitnessstand über 10 km um 3:20 min schneller laufen würde als mit seinem alten Modell.
Auch wenn mir diese Zahlen eher für die Marathonstrecke realistisch erscheinen, zeigen sie doch das enorme Potential. Wir können ja eine kleine Rechnung mit unserer Leistungsmessung aufmachen. Könnten die Hälfte der eingesparten 4% Energie, also 2%, in höhere Geschwindigkeit umgesetzt werden, dann wären das bei 300 Watt etwa 6 Watt zusätzliche Leistung. Also etwa 5 sec/km. 3-6 sec/km sind auch die Größenordnung über die man in der Szene spricht.
Für ca. 5 sec/km nimmt man gern einiges in Kauf. Preis und Haltbarkeit dieser Schuhe sind umgekehrt proportional zueinander. Aber gut, die Anzahl schneller Wettkampfkilometer halten sich auch in Grenzen. Aber eine Zeit unter 3 h oder unter 40 min können es natürlich wert sein. Über die Optik der extrem hohe Sohle kann man streiten, diese führt aber wohl zu einem schwammigen Gefühl beim Kurvenlaufen, so dass sich die Schuhe eher für schnelle asphaltierte Geradeaus-Strecken eignen. Die Vorteile kommen ab einem Wettkampf-Tempo von etwa 4 min/km und schneller zum tragen.
Natürlich sind diese Schuhe reine Straßenschuhe. Die Bahnweltrekorde wurden in den letzten beiden Jahren „turnusmäßig“ im üblichen Rahmen, von 2 sec über 5000 m und 6 sec über 10.000 m verbessert. Beim 10.000 m Weltrekord wurde dabei allerdings ein exakt konstanter „elektronischer Pacemaker“ in Form einer an der Bahn umlaufenden Beleuchtung eingesetzt. Daher fällt die Steigerung von 6 sec etwas höher aus als sonst. Auf der Bahn wird nach wie vor in Spikes (Langstreckenspikes) gelaufen und das natürliche Feder-Dämpfer-System des Körpers beim Vorfußlaufen verwendet. Diese Langstrecken-Spikes haben an der Ferse eine ca. 1 cm dicke Sohle ohne jegliche Dämpfung. Die Dämpfung kommt aus dem Belag der Bahn.
Ich selbst konnte die Schuhe noch nicht testen, da mich ja eine längere Verletzung außer Gefecht gesetzt hat. Ich werde es natürlich nachholen, sobald es die Form zulässt.
Zwei Dinge sehe ich trotzdem. Wenn du als Alterklassenläufer an Meisterschaften (sollten sie denn wieder stattfinden) teilnimmst, dann kannst du dich nicht mehr an den Zeiten in den Ergebnislisten von vor 2018 orientieren. Diese Zeiten sind Schall und Rauch. Deine Konkurrenz schläft nicht und hat natürlich auch diese neuen Treter an den Füßen. Wenn du also nach Medaillen-Plätzen strebst, dann solltest du künftig mit deutlich schnelleren Zeiten rechnen, die dafür erforderlich sind.
Das zweite betrifft Trainingspläne. Wie bekannt steuern wir z.B. unser Training über die max. mögliche 10 km Zeit. Wenn ein Athlet seine 10 km Bestzeit nun gerade in Carbon-Rackern gelaufen ist, beziehen sich alle vorgegebenen Zeiten im Trainingsplan auf diese schnelle Zeit. Im Training wird er aber vermutlich auf normale Laufschuhe zurückgreifen, mit denen er diese 10 km Zeit nicht erreichen kann. Das kann dazu führen, dass er sich bei dem Versuch die Trainingsvorgaben zu erreichen etwas überfordert. Vermutlich müssen wir künftig neben der 10 km Zeit auch die dabei verwendeten Laufschuhe abfragen.
Im Greif-Strava-Club hatte ich die Stryd-Nutzer dazu aufgerufen, bei TDL und Intervallen mal Vergleichsläufe bei exakt gleichem Tempo mit Carbon-Schuhen und „Normalschuhen“ durchzuführen und mir die entsprechenden Watt-Werte als Vergleich zu schicken. Bis jetzt liegen mir allerdings noch keine Werte vor. Gern kannst du dich daran beteiligen. Laufe auf gleicher Strecke, bei gleichen Bedingungen in gleichem Tempo mit verschiedenen Schuhen. Günstig sind 1000er oder 2000er Intervalle an einem Tag oder kürzere TDL an verschiedenen Tage. Letztlich sollte bei gleichem Tempo ein Unterschied in den Wattwerten sichtbar werden.
Natürlich findest du du diese Wettkampfschuhe auch bei uns im Onlineshop.