Jahrelang habe ich Holger Meier gehasst, beschimpft, veräppelt, mich über ihn geärgert und immer wieder seine negativen Eigenschaften beschrieben. Und in all den langen Jahren, in denen ich mich in der Laufszene bewegte, fragte ich mich immer wieder: Wer ist eigentlich dein persönlicher Holger Meier? Ja, ich hatte mehrere, leider waren es immer nur temporäre. In meiner Berliner-Zeit wechselten die ständig, immer wieder qualifizierten sich neue Scheußlinge für den Titel meines persönlichen Holgers.
Einen Holger hatte ich sehr lange, dass war Ingo Sensburg, der mir zwar auf allen Strecken weit überlegen war, seine Leistungen stellten aber das Ziel meiner Träume dar: "Einmal Ingo schlagen, dass wäre es." Es ist mir leider nie gelungen. Später dann, als ich wieder in meiner Heimatstadt Seesen/Harz lief, wollte sich eigentlich auch nicht so ein richtig schöner dauerhafter Holger herausschälen. Oft dachte ich: "Das ist er!" Aber nach dem er mich ein paar Mal abgezogen hatte, war ich dann bald stärker, was ihm dann die Qualifikation eines Rivalen entzog.
Als im Laufe der Zeit mein sportlicher Ehrgeiz einschlief, nahm ich gar keine Holger Meier-Typen mehr wahr, bis dann etwas völlig Unerwartetes passierte. Kurz nach dem Berlin-Marathon 2005 bekam ich nachfolgende Mail:
"Hallo Peter,
vielen Dank nochmals für das Kompliment "Fettsack" in Moabit, so was baut mächtig auf. Man sieht jedoch an dieser Reaktion, Du bist der gleiche Fiesling wie schon vor 20 Jahren. Aber solange genug dumme Laufschafe Herrn Greif folgen, ist ja alles in Butter.
Viele Grüße M. H."
Mir fiel es wie ein Schatten von den Augen: "Mensch, du bist ja selber Holger Meier!" Um diese (Hass-) Mail zu verstehen, muss ich dir die Geschichte von Anfang an erzählen. Sie begann Anfang der 70 Jahre in Berlin. Ich studierte an der TU und startete für den SCC Charlottenburg. In diesem Club gab es eine Vielzahl sehr guter Läufer und ich musste mich in deren Hierarchie erst langsam nach oben arbeiten. Das war ein langer und harter Weg. Hatte man sich eine Position erkämpft, kamen wieder neue sehr leistungsfähige Sportler zu uns in den Verein und sägten am persönlichen Ranglistenplatz.
So tauchte eines Tages auch M. H., der Schreiber der obigen Zeilen auf. Er lief auf Anhieb sehr gute Zeiten und kam mir im Rennen schon nahe. Aber als bedrohlich empfand ich ihn nicht, er war ein Typ, den ich "lesen" konnte. Das heißt, ich wusste im Rennen schon vorher, was er als nächstes macht. Somit konnte er mich nicht austaktieren, für den ersten Sieg hätte er doch schon deutlich stärker sein müssen.
Auffällig war, dass er nicht oder nur ganz selten mit unser Gruppe trainierte. Das heißt, so richtig kennen lernen konnten wir ihn alle nicht. Aber jeder hatte so eine Ahnung, dass er wohl etwas schwierig war, denn er war ausgestattet mit einer schon professionell zu nennenden Humorlosigkeit. Wie schwierig M. H. war, wurde uns eigentlich erst klar, als wir mit einer großen Mannschaft zu einem Marathon nach Süddeutschland fahren wollten.
Unser damaliger Trainer Heinz Uth gab die Devise aus: "Wir laufen drei Wochen vorher in Spandau den Marathon in einem Tempo von gut 4 min/km als Training." Wir waren uns alle einig: "Machen wir, so zwischen 2:50 und 2:55 bekommen wir locker hin! Und wir bleiben auf jeden Fall bis in das Ziel zusammen" So traten wir auch alle gemeinsam "eingenordet" bei diesem Wald- und Wiesenmarathon in Spandau an.
Die 4 min/km waren ein lockeres Tempo für unsere Sechser-Gruppe. Wir blieben zusammen und flachsten herum. Wenn jemand im "Busch" war, warteten alle und so lief das Ganze im wahrsten Sinne des Wortes sehr harmonisch ab. Nur einer nicht, das war M. H., er beteiligte sich nicht am Flachs und kümmerte sich auch nicht um die anderen Gruppenmitglieder.
Als sich wieder einmal jemand entwässern musste, nutzte er die Gelegenheit um das Tempo zu erhöhen und sich nach vorne zu entfernen. Der Rest der Gruppe war natürlich "stinkesauer". "Wir hatten doch abgemacht, dass wir zusammenbleiben!" M. H. kam, ich weiß es leider nicht mehr genau, gut 5 min vor uns in das Ziel. Dort haben wir ihm natürlich eine verbale Behandlung verpasst, von denen er die meine offensichtlich immer noch nicht vergessen hat.
Unser Trainer hat ihn danach auch zur Rede gestellt, warum er sich denn nun nicht an die Abmachungen gehalten habe. M. H. antwortete: "Ich hatte das Gefühl, ich sollte hier fertig gemacht werden!" Dieses Gefühl hat ihn wohl doch sehr getäuscht, denn daran hatte wirklich niemand gedacht und wir waren ja auch im Training und nicht in einem Wettkampf.
Die Stunde der Wahrheit kam in dem 3 Wochen später ausgetragenen Marathon. Jetzt sollte M. H. zeigen was er konnte. Aber leider konnte er seine erwartete Leistung nicht erbringen. Statt wie erhofft unter die ersten drei unseres Teams zu kommen, reichte es nur für die zweite Mannschaft. Ich glaube, er landete auf Platz 5 in der Vereinswertung. Ich selbst belegte den 2. Rang und war überaus zufrieden, lief ich doch erstmals unter 2:30 h. Weil die Mannschaftsleistung an diesem Tag insgesamt hervorragend war, ließen wir unserer Lebensfreunde freien Lauf und betranken uns mehr oder minder. Es ist durchaus anzunehmen, dass wir in diesem Zustand gehobener alkoholgestützter Aktivität gegen M. H. ein bisschen gehetzt haben.
Bei den nachfolgenden Wettkämpfen war nicht zu übersehen, dass mein Konkurrent sich mit allem Engagement abmühte mich zu schlagen. Was ihm aber nicht gelang. Leider wurde ich in dem Jahr noch krank und auch im letzten Rennen bevor ich mich für 4 Jahre zurückzog, musste ich mich wieder mit M. H. über 10 km auseinandersetzen. Er war das ganze Rennen weit vorn, wurde dann aber zum Schluss langsamer. Er spürte wohl, dass ich dicht hinter ihm lag, verkrampfte und ich konnte ganz locker an ihm vorbeiziehen.
In den 4 Jahren, in den ich meine Erkrankung und die Folgen einer Operation ausheilte, traf ich M. H. oft und wir unterhielten uns ganz freundschaftlich. Jetzt war ich kein Konkurrent mehr für ihn und alles war gut. In dieser Zeit lief er beim New-York-Marathon, die für diese Strecke großartige Zeit von 2:24:??, was auch sein persönlicher Rekord blieb.
Als ich dann 1981 wieder anfing zu trainieren, traf man sich im Wettkampf natürlich wieder. 1984 lief ich beim Frankfurt-Marathon meine Marathon-Bestzeit und dort passierte mir das Unangenehmste, was mir im Rahmen eines Wettkampfs jemals zugestossen ist. Ich kam dort mit 2:24:12 in das Ziel, diese Zeit war um wenige Sekunden besser der Hausrekord vom M. H., der gut 2 min später einlief. Ich freute mich wahnsinnig über seine und meine überragende Leistung, jubelte ihm meine neue Bestzeit entgegen und umarmte ihn.
Es ist noch heute fast unvorstellbar für mich, was jetzt geschah: M. H. machte sich abrupt frei aus meiner freundschaftlichen Umarmung und prügelte auf mich ein. Keine Knüffe, welche Männer manchmal freundschaftlich austeilen, sondern gezielte Boxhiebe gegen meinen Kopf. Ich glaube, so blöde habe ich noch nie in meinem Leben aus der Wäsche geschaut. Ich war völlig konsterniert, konnte die Schläge aber abwehren, noch während er auf mich einprügelte, fragte ich ihn was den los sei, seine Antwort zwischen zwei Hieben: "Wie kannst du mich so fest drücken, du hast mir weh getan!"
Das M. H. für lange Zeit für mich erledigt war, ist sicher jedem klar. Aber das sportliche Duell ging weiter. In 85 lief ich die "25 km de Berlin", war am Ende sehr gut drauf und überholte auf den letzten km einige gute Läufer. Im letzten Anstieg vor dem Olympiastadion kämpfte ich eine Dreiergruppe nieder, in dem sich auch mein liebster Rivale befand. Alles andere als locker quälte ich mich vorbei und er schrie mir hinterher: "Das ist kein Mensch, das ist ein Tier!" Obwohl ich so kaputt war, musste ich innerlich doch lachen. Im Übrigen gewann ich an diesem Tag überlegen die Mastersklasse in neuer persönlicher Bestleistung von 1:23:37.
Da ich ja kein nachtragender Mensch bin, sprach ich auch dann auch wieder mit M. H., ohne diesen unangenehmen Vorfall von Frankfurt zu erwähnen. In der folgenden Zeit fuhr ich mein Training herunter und jetzt war mein Lieblingsgegner erst selten, aber mit den Jahren, in denen ich dann immer weniger trainierte, bald regelmäßig vor mir. Nun traf man sich unter veränderten Bedingungen, denn Duelle in Rennen gab es nicht mehr, wir plauderten nur noch über die alten Zeiten.
Ich laufe nun schon seit Jahren keine Wettkämpfe mehr, aber M. H. ist immer noch dabei. So startet er auch beim diesjährigen Berlin-Marathon. Am Tag vor dem Start kam er an unseren Messestand und wir unterhielten uns. Mit den Jahren hatte er sich einen schönen Bauch zugelegt und ich dachte, als er mir von seiner Startabsicht berichtete: "Na, er wird sicher nicht so weit vorn landen".
So war ich auch völlig überrascht, als ich ihn am Wettkampftag in Moabit stehend, ziemlich weit im vorderen Viertel des Feldes laufen sah. Er kam direkt an mir vorbei, ich klatschte ihm freundschaftlich auf den Po und rief hinterher: "Fettsäcke haben hier vorne nichts zu suchen!" Das war sicher etwas grob, aber nur der Ausdruck meiner Anerkennung, dass er trotz seines erheblichen Übergewichts so weit vorne mitlaufen konnte.
In diesem Moment muss ihm die Galle übergelaufen sein, der ganze Frust der frühen Jahre wohl wieder hoch kam. So ist dann natürlich auch seine obige Mail zu verstehen, die ich ihm auch nicht übel nahm, sie hat mich eher zum Schmunzeln gebracht. Wenn ich nun selber schon nicht mehr ordentlich laufen kann, tauge ich doch noch als vollwertiger Holger Meier. Und ein gepflegter und williger Holger Meier, der bereitwillig immer wieder in alten Wunden rührt, ist ein kaum zu überschätzender sportlicher Motivator.