Beurteilung der Trainingsbelastung
Nachdem wir uns im letzten Newsletter mit den Leistungsbereichen und den zugehörigen physiologischen Systemen der Energiebereitstellung beschäftigt haben, wird es heute noch einmal richtig interessant. Es geht um die Frage, ob und wie sich die Trainingsbelastung mittels Wattmessung exakt bewerten lässt. Dabei können über die objektive Betrachtung der kurz-, mittel- und langfristigen Belastung im Training viele Aussagen getroffen werden. Trainiere ich zu viel und zu intensiv, oder zu wenig und nicht intensiv genug? Schadet die aktuelle Trainingsbelastung meinen Formaufbau? Ist die aktuelle Belastung optimal im Tapering für einen Wettkampf? Gehe ich gerade ein Verletzungsrisiko ein oder steuere gar Richtung Übertraining?
Die zwei entscheidenden Belastungsfaktoren für eine einzelnen Trainingseinheit oder einen Wettkampf sind der Umfang (Dauer) und die Intensität (Wattleistung bzw. Pace). Das beide Faktoren immer zusammen betrachtet werden müssen, scheint eigentlich klar. Trotzdem definieren viele Läufer ihre Belastung oft rein aus ihrem km-Umfang.
Natürlich ist der Umfang ein wichtiger Faktor. Sicher viel wichtiger als in anderen Sportarten. Warum? Weil wir in jedem Fall, selbst bei ruhigen Läufen, eine höhere Muskelbelastung aufgrund der Stoßbelastung haben als z.B. beim Radfahren. Vergleiche einfach mal eine lockere Radtour von 1 h oder auch 2 h mit einem langsamen Dauerlauf in Leistungsbereich 1 (Erholung) von 1 h. Im Grunde kann man deshalb völlig zu Recht sagen, dass es eigentlich keinen regenerativen Lauf gibt. Zum jeweiligen Umfang müssen wir immer die Intensität des Laufes betrachteten, um die Belastung für den Körper zu beurteilen. Die Intensität erhalten wir aus den Watt-Werten des Leistungsmessers.
In den vorherigen Newsletter haben wir gesehen, wie viel genauer sich Intensität von Training oder Wettkampf anhand der Wattleistung messen und definieren lässt, als das mit anderen Methoden (Herzfrequenz, Pace oder gefühlte Anstrengung) möglich ist. Da wir jeweils auch die Dauer messen, können wir die Belastung einer einzelnen Trainingseinheit oder Wettkampfes berechnen.
Training Stress Score (TSS)
Der entsprechende Wert, der diese Belastung repräsentiert, heißt Training Stress Score, abgekürzt TSS. Dr. Andrew Coggan hat diesen für den Radsport entwickelt. Er lässt sich aber für uns auf das Laufen anwenden.
Wir sehen die bekannten Werte wie Belastungsdauer, normalisierte Leistung (NP), Intensitätsfaktor (IF) und FTP (bzw. CP). Durch scharfes Hinschauen erkennt man, dass man bei einem einstündigen Lauf (3600 s) im Bereich der Funktionsleistungsschwelle (FTP), also mit einem Intensitätsfaktor (IF) von exakt 1, einen TSS-Wert von 100 erreicht. Mehr ist bei einem einstündigen Lauf nicht möglich, da der FTP-Wert ja als max. Leistung definiert ist, die 1 h aufrecht erhalten werden kann. Für einen langen Lauf mit geringerer Intensität, kann und wird der TSS deutlich über 100 liegen. Dies liegt wiederum am Einfluss der Belastungsdauer in der Formel. Sobald du dir den TSS für deine Trainingseinheiten anschaust, wirst du nach und nach ein Gefühl dafür bekommen, wie sich diese Werte belastungsmäßig für deinen Körper anfühlen.
Kurz anmerken möchte ich, dass Stryd eine etwas abgewandelte Formel verwendet und den Wert dann RSS (Running Stress Score) nennt. Die absoluten Werte liegen ca. 10-20% unter denen aus der Formel für den TSS. Letztlich sind die absoluten Werte gar nicht entscheidend, wichtig ist das dahinterstehende Prinzip. Dieses wird im Übrigen in ähnlicher Weise beim TRIMP (Trainingsimpuls) unter Berücksichtigung der HF-Werte (mit allen vorhandenen schon besprochenen Nachteilen und Ungenauigkeiten) verwendet.
Leistungsbereich | Intensitätsfaktor (IF) | TSS pro Minute | TSS pro Stunde |
---|---|---|---|
1 (Gehen/Erholung) | <= 0,8 | < 1 | < 60 |
2 (Ausdauer) | 0,81 - 0,88 | 1,1 - 1,4 | 65 - 88 |
3 (Tempo) | 0,89 - 0,95 | 1,5 - 1,6 | 89 - 95 |
4 (Schwelle) | 0,96 - 1,05 | 1,6 - 1,7 | 96 - 100 |
5 (Hohe Intensität) | 1,06 - 1,15 | 1,8 - 1,9 | |
6 (VO2max) | 1,16 - 1,28 | 1,9 - 2,2 | |
7 (Anaerobe Kapazität/Max. Leistung) | >= 1,29 | > 2,2 |
Tabelle 1: Ungefährer TSS abhängig von Zeit und Leistungsbereich (Quelle: Jim Vance, Wattmessung für Läufer)
In Tabelle 1 sind sehr gute Richtwerte für den TSS bei Belastung in den verschiedenen Leistungsbereichen (siehe Newsletter vom 15.12.2020) aufgeführt, wenn man nicht die Formel heranziehen möchte. Du siehst sofort, dass der TSS eines Halbmarathons mehr als dreimal so hoch ist wie der eines 5-Kilometer-Laufs (5 km: 20 min in Bereich 5-6, HM: 1:35 h in Bereich 3-4). Daran erkennt man, dass der Körper nicht linear auf Belastung reagiert. Das bedeutet, das Erholungsbedürfnis und auch das Verletzungsrisiko steigen überproportional zum TSS.
< 30 min | < 35 min | < 45 min | > 50 min |
---|---|---|---|
ca. 55 | 60-65 | 70-80 | > 90 |
Tabelle 2: TSS für einen 10 km Wettkampf in Abhängigkeit der Geschwindigkeit
In Tabelle 2 lässt sich noch etwas Wichtiges erkennen. Die Belastung für einen langsameren Läufer ist bei gleicher Streckenlänge höher. Er wird einen Wettkampf in der Regel mit einem etwas niedrigeren Intensitätsfaktor (IF) laufen, d.h er bewegt sich nach Leistungsbereichen (1-7) betrachtet ca. 1 Stufe niedriger als ein schneller Läufer, dafür ist er zeitlich länger unterwegs. Das führt zu deutlich höheren TSS-Werten und einem erhöhten Erholungsbedarf.
Anhäufung des TSS
Oben haben wir nun den TSS aus einer einzelnen Trainingseinheit oder eines Wettkampfes betrachtet. Dabei waren Dauer und Intensität die beiden entscheidenden Faktoren. Wenn wir eine lange, sehr intensive Einheit oder Wettkampf laufen, den Rest der Woche aber pausieren, dann ist die Belastung für die gesamte Woche doch sehr übersichtlich. Für die Gesamtbetrachtung eines längeren Zeitraumes (Woche, Monat, Jahr) müssen wir die Trainingshäufigkeit (Anzahl der Trainingstage) mit einbeziehen. Für eine Woche können wir die TSS der einzelnen Tage aufsummieren und erhalten den Gesamt-TSS der Woche. Dividieren wir diesen Gesamt-TSS durch 7, dann erhalten wir den TSS pro Tag (TSS/d). Pausentage gehen dabei mit in die Rechnung ein.
Um zu sehen, wie gut du insgesamt mit der Trainingsbelastung zurechtkommst, musst du nur deinen TSS über einen längeren Zeitraum beobachten. Dafür gibt es 2 interessante Zeiträume.
Chronische Trainingsbelastung (CTL)
Der erste Zeitraum den man betrachten sollte, ist eine größere Zeitspanne. Wie lang sollte diese Zeit sein? Sechs Wochen reichen für diesen Zweck normalerweise aus, denn die zurückliegenden 42 Tage haben den größten Einfluss auf deine momentane Leistungs- und Formentwicklung. Wenn wir über einen Zeitraum von 42 Tagen einen Durchschnitt für den TSS pro Tag bilden, erhalten wir einen Wert, der besagt, welche tägliche Belastung dein Körper beim momentanen Trainingszustand tolerieren kann. Dieser Wert wird chronische Trainingsbelastung genannt oder CTL (von engl. Chronic Training Load). Beim CTL-Wert bilden wir einen gleitenden Durchschnitt aus dem TSS vom heutigen Tag und jeweils den vergangenen 41 Tagen. So erhalten wir für jeden einzelnen Tag den Mittelwert des TSS über den Zeitraum der letzten 42 Tage. Diagramm 1 zeigt den täglichen TSS (Balken) den Verlauf der CTL-Kurve über mehrere Wochen hinweg.
Diagramm 1: TSS und Chronische Trainingsbelastung (CTL)
Wie du siehst, steigt der CTL langsam und recht kontinuierlich an. Im Sommer lief ich aufgrund einer Verletzung nur 30 min pro Tag, im Oktober/November dehnte ich die Distanzen etwas aus (ohne intensiver zu laufen) und Ende November begann ich mit dem normalen intensiveren Training. Die Belastungsfähigkeit steigt mit zunehmender Leistung an. Der CTL-Wert steigt und die Leistung ebenso.
Ermüdung und akute Trainingsbelastung (ATL)
Als zweiten Zeitraum betrachten wir die aktuelle Trainingsbelastung. Das ist die Belastung, die quasi beschreibt, wie du dich momentan fühlst. Sie berücksichtigt die letzten 7 Tage. Dazu wird für jeden Tag der Kurzzeitdurchschnitt des aktuellen Tages und der vergangenen 6 Tage berechnet. Du bekommst also auch hierfür für jeden Tag einen Wert. Dieser gleitende 7-Tage-Durchschnitt wird akute Trainingsbelastung genannt, abgekürzt ATL (von engl. Acute Training Load). Der ATL-Wert ist sehr aussagekräftig, was deine momentane Ermüdung angeht. In Diagramm 2 ist die ATL-Kurve zusammen mit der CTL-Kurve aus Diagramm 1 abgebildet.
Diagramm 2: Ermüdung und akute Trainingsbelastung (ATL)
Anhand des CTL-Werts lässt sich abschätzen, wie sehr dich eine aktuelle (kurzfristige), deutlich höhere Trainings-Belastung beim momentanen Leistungsstand errmüden würde. Beispiel: Du absolvierst bei einer CTL von 60 TSS pro Tag ein Trainingslager oder einen speziellen Trainingsblock weil du Urlaub hast. Dabei kommst du auf einen durchschnittlichen TSS von 120. Dieser 7-Tage Durchschnitt von 120 ist doppelt so hoch wie der Wert, den du während der letzten sechs Wochen gewohnt warst. Wenn du das schon einmal probiert hast, kannst du nachvollziehen, wie sich diese Ermüdung anfühlt. Jetzt bekommst du auch die Zahlen dafür geliefert.
Der 7-Tage-Durchschnitt gibt also die augenblickliche Trainingsbelastung wieder. Wie du erkennst, führt der Anstieg der ATL zu einem gleichzeitigen Anstieg der CTL. Um besser zu werden, müssen wir uns im Training ermüden, also muss der ATL steigen, damit der CTL steigen kann.
Trainingsbelastungsbilanz (TSB)
CTL und ATL sind Durchschnittswerte des TSS die du für jeden Tag bekommst. CTL misst die langfristige Belastung (gleitender Durchschnitt über die letzten 42 Tage), ATL die kurzfristige (gleitender Durchschnitt über die letzten 7 Tage).
Ein Vergleich zwischen beiden Werten sagt dir, wie hoch deine momentane Trainingsbelastung ist. Beispiel: du hast momentan eine CTL von 65 und trainierst diese Woche sehr intensiv mit einer ATL von 100. Das bedeutet einen Anstieg des TSS pro Tag von 35, also um als 50%. Das ist eine erhebliche Steigerung. Du wirst nicht frisch genug für einen wichtigen Wettkampf sein.
Für diese Betrachtung kommt die Trainingsbelastungsbilanz (TSB) ins Spiel. Sie wird für jeden Tag berechnet als Differenz von CTL und ATL. Es gibt quasi das Verhältnis von Leistung zu Ermüdung an. Aus diesem Wert bekommst du mehrere Aussagen. Zum einen, um wie viel dein momentanes Training härter ist als das, was du gewohnt bist. Zum anderen, ob und wieweit du bereit bist für den nächsten Wettkampf (Tapering).
Diagramm 3 zeigt den TSB aus den Kurven von CTL und ATL in Diagramm 2. Noch einmal, wir subtrahieren für jeden einzelnen Tag den ATL-Wert vom CTL. Das bedeutet, der TSB-Wert kann positive oder negative Werte annehmen.
Diagramm 3: Trainingsbelastungsbilanz (TSB)
Das obige Beispiel mit einer ATL von 100 und einer CTL von 65 ergibt eine negative Trainingsbelastungsbilanz (TSB) mit dem Wert –35. Während der zurückliegenden sieben Tage war die Trainingsbelastung also deutlich höher als im sonstigen Durchschnitt. Folge ist eine spürbare Ermüdung. Hätte CTL während dieser sieben Tage 65 betragen und ATL 50 wie sonst auch, käme als Bilanz +15 heraus, bei der nicht mit Ermüdung zu rechnen ist.
Du erkennst schnell das Prinzip. Trainieren wir häufig und hart, so dass der ATL über dem CTL liegt, dann ergibt sich eine negative TSB. Solange wir dabei nicht dauerhaft in den Überlastungsbereich (TSB = -45 bis -40) siehe Diagramm 3 kommen, wird unsere Leistung steigen, da wir uns an die höhere Belastung anpassen.
Legen wir ein paar lockere Tage mit kürzeren Läufen oder gar Ruhetage ein, geht die Ermüdung zurück, der TSB-Wert geht nach oben und bei ausreichender Erholung auch in den positiven Bereich. Die Trainingsbelastungsbilanz (TSB) ist somit ein guter Indikator, ob du ausreichend erholt und bereit für einen Wettkampf bist. Ist deine Leistungsfähigkeit und der TSB-Wert hoch, kann der Wettkampf kommen. Du bekommst also einen exakten Wert, der dir deinen momentanen Leistung- und Erholungszustand beschreibt.
Der Wert für die TSB beschreibt also immer deinen aktuellen relativen Zustand. Steigerst du deinen Umfang und deine Intensität sehr schnell, wirst du dich im deutlich negativen TSB-Bereich wiederfinden (Diagramm 3). Dein Körper hatte nicht ausreichend Zeit sich an die Belastungen anzupassen. Steigerst du über 3-4 Monate langsam und kontinuierlich, dann wirst du nach dieser Zeit auch deutlich höhere Belastungen vertragen, ohne in den roten Bereich zu kommen.
Tapering
Um vor einem Wettkampf zu tapern, reduzieren wir Trainingsumfang. Das heißt, die Häufigkeit und/oder Dauer sinkt und wir verwenden mehr Zeit auf Regeneration. Die Frage ist dabei immer, wie viel Belastung ist zu viel, wie viel ist zu wenig? Was sollen wir genau machen.
Wenn du dir die Kurven für CTL und ATL in Diagramm 2 anschaust, wirst du leicht darauf kommen was passiert, wenn du plötzlich dein Training völlig einstellen würdest. Der CTL würde Tag für Tag langsam sinken, der ATL gegen Null tendieren und die TSB würde sich in den dunkelgrünen Leistungs-Bereich (TSB = 5 bis 25) bewegen. Dies ist der Bereich, den wir durch das Tapering zum Wettkampf hin erreichen wollen.
Nun macht das völlige Einstellen des Trainings im Tapering keinen Sinn, weil dann auch unsere läuferische Leistung abnimmt. Leistung ist nun mal die Fähigkeit des Körpers, mit Belastung zurechtzukommen, daher ohne Belastung keine Leistung. Alles steht und fällt damit, dass die Erholung während des Taperns den Leistungsverlust wieder wettmacht. Für das Tapering gibt es somit 3 sinnvolle Regeln:
- Behalte deine gewohnte Trainingshäufigkeit bei, reduziere dabei aber die Belastungsdauer. Dadurch sinkt der Trainingsumfang automatisch. Setze dennoch über den gesamten Zeitraum des Tapering gezielte Trainingsreize in wettkampfspezifischer Intensität (Wettkampfgeschwindigkeit).
- Der Wert für die CTL sollte dabei nicht mehr als zehn Prozent zurückgehen, ganz egal, für welche Wettkampf-Distanz das Tapern erfolgt. Diese 10% beziehen sich auf das gesamte Tapering, das heißt vom ersten Tag bis zum Tag des Wettkampfs.
- Der Wert für die TSB sollte je nach Wettkampf-Distanz bis zum Wettkampf einen Wert zwischen 5 und 25 erreichen.
Tabelle 3 zeigt die empfohlenen Werte für den CTL-Rückgang und den TSB-Wert für die verschiedenen Wettkampfstrecken. Die Werte gelten für deine wichtigsten Wettkämpfe des Jahres. Natürlich kannst du einen 5 oder 10 km Wettkampf auch mit leicht negativen TSB-Werten erfolgreich absolvieren.
Wettkampfstrecke | CTL-Rückgang | Empfohlener TSB |
---|---|---|
5 km | < 5% | 5 - 10 |
10 km | < 5% | 10 - 15 |
Halbmarathon | < 7% | 15 - 20 |
Marathon | < 10% | 20 - 25 |
Tabelle 3: Richtwerte für CTL-Rückgang und TSB-Werte vor Wettkämpfen (Quelle: Jim Vance, Wattmessung für Läufer)
Alle heute beschriebenen Werte und Diagramme bekommst du fein säuberlich in der Stryd-APP oder im Stryd-Powercenter dargestellt.
Quelle: Jim Vance (Wattmessung für Läufer)
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