Im letzten Newsletter haben wir uns mit den hochtalentierten Läufer(innen) beschäftigt und nachher gefragt, wie wir denn an uns selbst das Vorhandensein von Talent erkennen können. Vorher sollten aber die Rahmenbedingungen abgeklärt sein, damit es nicht zu Missverständnissen kommt. Denn es gibt doch Leute, die scheinen in meine Zeilen etwas herein zu interpretieren, was ich weder meine noch denke. Jemand schrieb mir doch tatsächlich, ich hätte Schuld daran, dass Jugendliche keinen Leistungssport mehr treiben würden.
Mein Erstaunen aufgrund dieses Vorwurfs war fast grenzenlos, denn bisher kamen die Vorwürfe immer von der anderen Seite. Seit Jahren schießen einige in meine Richtung, weil ich für den Leistungsport im Laufbereich stehe. Was auch völlig richtig ist und nun so was. Ich ging natürlich sofort in innere Klausur. Bin ich etwa jetzt im hohen Alter auf dem Wege zum Weicheiausbrüter? Der Schmusetrainer der Nation? Hatte ich nicht vorgestern beim Training ein Langarm-Shirt mehr als früher angezogen? Mutiere ich zum Bananen-Wegesser? Ich muss mich unbedingt zusammenreißen!
Darum zurück zum Thema Talent. Welches Talent ist denn nun eigentlich gemeint? Das um unter 3 h (m) bzw. 3:15 (w) im Marathon zu kommen? Nein, dies nun gewiss nicht. Die 3 h schafft jeder gesunde junge Mann und die 3:15 kann auch jede Frau unter 40 Jahre erreichen. Natürlich haben wir bei diesem Gedanken schon die völlig Untalentierten herausgenommen. Holger und Olga bleiben natürlich drin!!
Selbstverständlich können solche Ziele nur erreicht werden, wenn man sich dieses Ziel auch setzt, die Zeit zum Training hat, das richtige Training anwendet, gesundheitlich dazu in der Lage ist und den Glauben an sich selbst hat.
Nach den Studien von Brouchard können wir davon ausgehen, das Talent, wie auch die meisten anderen Dinge in der Natur, bei uns Menschen normal verteilt ist. Sicher wirst Du Dich von der Schule her an die so genannte Gaußsche Glockenkurve erinnern, die diese Normalverteilung grafisch ausdrückt.
Diese Normalverteilung können wir in etwa auch für die Talentverteilung annehmen. Ganz rechts unten im Glockenrand (dunkelblau) sitzen die, die niemals daran denken würden, einen Marathon beenden zu können. Dann kommt die mittelblaue Fläche mit denen, die schon einmal überlegen etwas Sport treiben zu müssen, aber es in der Regel nach einigen Versuchen wieder aufgeben. Dann folgt der hellblaue große Zweidrittel-Teil, in dem sich wohl auch der größte Teil der Leser dieser Zeilen wieder finden wird. In diesem Bereich sind alle die, die die berühmte Marathon-Schwelle von 3 h unterschreiten können.
Im mittelblauen Anteil links, da findest Du die Sieger der Volksläufe, die Lokal-Matadoren und die Traumzeiten-Träumer, die Alterklassensieger, alle die, die schneller sind als 90 % des Feldes, auch einige der nationalen Meister und "Mitläufer" bei internationalen Großereignissen. Aber alles was so talentiert ist, dass es jemals hoffen kann, auch einmal auf dem Siegerpodest bei Erdteilmeisterschaften zu stehen, findest Du ganz links im kleinen dunkelblauen Rand der Glocke.
Um Himmelswillen, wirst Du jetzt denken, da gehöre ich bestimmt nicht dazu, denn das sind nur ganz wenige. Vielleicht solltest Du die Sache aber erst einmal überdenken, bevor Du Deine Olympia-Traum-Laufschuhe in den Schuhcontainer wirfst. 2,5 % aller Deutschen sitzen ganz links am Glockenrand, meist nicht um ihr Ausdauertalent wissend. Das sind rund 2 Millionen Teutonen! Schließen wir davon Zweidrittel aus Altersgründen aus, dann sind wir bei 666.000 Hochtalentierten, die in der Lage sind die deutsche Medaillenbilanz aufzupolieren. Es besteht somit eine Chance, dass Du dazuhörst. Wie aber finden wir das raus?
Nähern könnten wir uns der Sache mit der Messung Deiner maximalen Sauerstoffaufnahme. Wenn diese jetzt sehr hoch wäre, dann haben wir schon eine Ahnung davon, dass Du ein Talent bist. Leider ist die Langstreckenleistung nur zu ca. 85 % von der maximalen Sauerstoffaufnahme abhängig. Wir würden also immer noch nicht wissen, ob Du eher zum Bezirks- als zum Weltmeister geschaffen bist.
Es gibt aber ein einfaches und untrügliches Zeichen für Talent und das ist die Reaktion auf Training. Begabte Läufer benötigen keine 2 Jahre um unter 40 min über 10 km zu kommen, die können das praktisch sofort. Dazu reicht denen etwas Fitness-Training oder zweimal Fußball spielen in der Woche. Oder auch gar kein Sport! Das Haus, in dem sich unser Laden und Versand jetzt befindet, war früher ein Mietshaus. Unten wohnte mit Eckhard Schoof auch ein Marathonläufer. Oben ein Ehepaar, von dem der Mann mit Namen Ralf (35) keinerlei Sport trieb, er fuhr nur im Sommer Motorrad. Das auch manchmal zu schnell. Dies hatte zur Folge, dass ihm der Führerschein abhanden kam. Da langweilte sich der Gute und Eckhard Schoof lud ihn ein, doch mit uns ein bisschen zu laufen. "Ach ja, bis vor 10 Jahren habe ich Fußball gespielt, da konnte ich auch ganz gut laufen", meinte er. Der kam und lief mit uns los, 20 km im 4:30 min/km-Tempo ohne zu mucken. Ralf hatte keinerlei Probleme mit dem Training und lief jeden Tag mit uns. "Ha´ste denn keinen Muskelkater?" Nee, nur ganz wenig!"
Wir verzweifelten fast! 30 km mit schwersten Steigungen, Ralf stöhnte nie. Einen Wettkampf wollte der Gute aber nicht machen, denn: "Wenn ich meinen Führerschein wieder habe, fahre ich sowieso wieder Motorrad!" Unsere Platzhirsche zitterten schon um ihren Rang, weil Ralf immer schneller wurde. Aber Flensburg rettete sie, der Führerschein kam zurück. Ralf schwang sich auf seinen "Hobel" und ward in der Laufszene niemals wieder gesehen. War wieder nichts mit dem Aufpolieren der Medaillenbilanz.
Es gibt aber auch andere, die entwickeln sich langsamer und sind auch hochtalentiert. Aber grundsätzlich gilt: Wenn Du begabt bist, dann merkst Du es daran, dass sich Deine Leistungsfähigkeit deutlich schneller entwickelt als die Deiner Umgebung. Diese schnelle positive Reaktion auf Training ist eigentlich das einzig sichere Anzeichen für Talent.
Aber tröste Dich, auch diese Leute müssen trainieren, um nach vorn zu kommen. Und: Ein durchschnittlich Begabter, der ehrgeizig ist, gut und umfangreich trainiert, kann es weiter bringen als ein schlampiges Talent.