Wir kennen ihn alle, den Mann, der sich nicht aus der Ruhe bringen lässt. Er trainiert engagiert, auch schnell, aber er hält sich an den ruhigen Tagen zurück. Du kannst ihn kaum zu einem höheren Tempo als geplant im Training verlocken. Selbst Sticheleien lassen ihn kalt. "Kann'ste nicht mehr? Hattest wohl 'ne Frühform?"
Seine Rennen laufen meist sicher und die erwartete Endzeit bleibt am Ende im Nahbereich der Planung. Was ihm aber fehlt ist, so etwas wie Feuer in der Seele. Der brennende Ehrgeiz, der so manchen in ungeahnte Leistungshöhen treibt.
Und diesen Typen kennen wir auch alle: Er "fliegt" praktisch nur. Kennt jede Trainingszeit auswendig und versucht an jedem Berg der Erste zu sein. Er kennt kaum Trainingspausen und wenn er sich einmal einen ruhigen Tag gönnt, dann läuft er im Durchschnitt 2 sec langsamer pro km.
Sein Mantra lautet: "Ist doch locker!" Seine Wettkämpfe geht er fast immer zu schnell an. Oft kann er seine eigenen Vorstellungen nicht erfüllen und dann sind meist die äußeren Umstände schuld. "Bei so einer Hitze kann ich nicht laufen!"
Dennoch erzielt solch ein "Flieger" oft gute Leistungen, er kann sie nur nicht dann abrufen, wenn er sie benötigt. Sein Versagen bei Meisterschaften ist oft schon legender. Wird aber auch überdeckt durch einige besondere Highlights. "Mann, habe ich die gestern alle stehen gelassen. Endlich habe ich den Durchbruch erzielt."
Hat er nicht. Der ruhelose "Flieger" gibt sich selbst die Versagensgarantie, weil er schon an dem Tag nach einem gelungenen Rennen seinen "Durchbruch" mit einem von Euphorie getriebenen Tempolauf feiert. Wenn man ihm die Schädlichkeit einer solchen Einheit nach einem Wettkampf vorhält, kommt sein stereotypes "War doch locker."
Sein größtes Hobby ist es, den Plan zu schlagen. Wie du sicher weißt, bekommen alle Greif-Clubmitglieder Tempovorgaben für alle Einheiten. Wenn dann zum Beispiel steht: "17 - 18 km extensiver Dauerlauf in 5:18 - 5:00 min/km. Pulsbereich 111 - 123." Dann betrachtet er die Zeit von 5:18 min/km in keiner Weise. Die steht da nicht für ihn, sondern für die Anderen, die aus seiner Sicht Schlaffen und Faulen.
Für ihn ist selbstverständlich, dass er dann nicht nur 5:00 min/km läuft, sondern mindestens 4:50. "Ist doch locker!" Am nächsten Tag steht dann im Plan: "3 x 3000 m Wiederholungsläufe mit 1500 m Trabpause in 12:03 min. Es geht gleich richtig los mit der Keulerei, aber immerhin ist das Tempo noch eingeschränkt. Pulsbereich notfalls über 153."
Dann wird er so richtig wild, denn im Gegensatz zum Vortag ist diese Einheit an der Grenze des Möglichen. Das Wort "Keulerei" gibt ihm einen Multihormonstoß, "eingeschränktes Tempo" ist wieder für anderen. 3 x 3000 m, nun ist sein Ehrgeiz erst richtig geweckt. Er stellt seine Pupillen auf Überlebenskampf, fährt die Krallen aus und bleckt vom vorgeschobenen Unterkiefer mit seinem Kampfgebiss.
Und da gibt es keine Gnade. Und wenn er auf Zahnfleisch, Schuhspitzen und Brustwarzen in das Ziel kommt, muss seine Stoppuhr 10 sec vor der geplanten Zeit stehen bleiben. "War doch locker", lallt er kaum noch artikulationsfähig hinter der Ziellinie!
Dieser Kampf um die Zeit ist nichts negatives, das machen wir doch fast alle. Die so erfolgreichen Kenianer kennen das gar nicht anders. Wenn die dreimal täglich in der Gruppe trainieren, dann setzt die "Wertung" morgens 1 km vor dem Ziel ein. Dann geht es nur noch um die Reihenfolge, wer zuerst im Ziel ist. Mittags beginnt die Hatz schon etwas früher und beim Abendtraining wird die ganze Strecke auf Wertung gelaufen.
Das halten nur die Besten aus, die die es nicht schaffen werden vergessen. Man braucht sie ja auch nicht. Es gibt genug bitter arme Menschen, die versuchen sich durch das Laufen einen angemessenen Lebensstandard zu verschaffen. Aber hier in Europa haben wir eine ganz andere Idee vom Training.
Wir versuchen auch uns alle möglichst weit vorn einzureihen, aber wir kämpfen nicht um ein warmes Mittagessen, sondern bei uns dreht es sich um Selbstwertgefühl, Gesundheit und der Freude am gemeinsamen Wettkampf. Und wir wollen alle durchkommen und nicht aussortiert werden.
Zu dem haben wir etwas, mit dem sich die Kenianer kaum herumschlagen müssen. Wir haben einen Beruf, der uns im hohen Maße fordert. Daraus folgert eine ständige nervale und oder auch körperliche Grundbelastung, die ein solches Training wie es die Ostafrikaner betreiben kaum zulässt.
Die Kenianer legen sich nach dem Training auf das Bett und das war es dann. Machen wir auch, aber nur im Trainingslager. Aber das nutzt uns auch nicht so viel, weil wir so ein ausgeweitetes Training gar nicht gewohnt sind. Wir müssen nach einem Trainingsurlaub erst einmal wieder 2 - 3 Wochen runter schalten, um uns von den Strapazen zu erholen.
Nur der "Flieger", der meint, er könne alles. Er ist eine Mischung aus Äthopier und Kenianer. Aber der Tag kommt, dann liegt unser Äthhopianer sinnbildlich am Boden oder ist verletzt. Gemeuchelt von eigener Hand. An diesem Punkt ist dann ein Gespräch nötig.
Wenn man den Totunglücklichen dann auf sein fehlerhaftes Verhalten hinweist, dann reagiert er in der Regel einsichtig. Als Erklärung für seinen selbstschädigenden Trainingsstil gibt er ein schlechtes Gewissen an, wenn er nicht hart und schnell trainiert.
Er weiß im Grunde genommen ganz genau, dass er sich mehr Ruhe lassen sollte, aber dieses schlechte Gewissen treibt ihn immer wieder in die Falle des Übertrainings. Das Ganze ist ein psychisches Problem, welches auch bekannt ist und meist schon in der Kindheit gelegt wird.
Nach so einem Gespräch und viel Verständnis von beiden Seiten, gelobt der Betroffene Besserung und läuft am nächsten Tag betont ruhig. Aber nur diesen einen Tag. Schon am Folgetag "fliegt" er wieder. "War doch locker!"
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass diese Charakterstruktur von einem Trainer nicht heilbar ist. Diese Leute bleiben wie sie sind. Schlagen sich mit Ermüdungsbrüchen, Achillessehnenentzündungen, Wettkampfversagen und einigen wenigen glückhaften Wettkampfmomenten umher und machen immer weiter, bis sie schließlich am Ende sind und es geht gar nichts mehr.
Oder wenn sie Glück haben, dann fallen sie in die Hände eines Psychologen, der könnte ihnen vielleicht helfen. Erlebt habe ich das leider noch nie.
Es gibt noch eine sportliche Todsünde, die nicht nur die "Flieger" unter uns begehen. Das sind die Rekordläufer auf der 35 km-Trainingstrecke. Hier wird versucht, diese Distanz möglichst in Reihenfolge zum Marathon hin immer schneller zu laufen.
Daraus folgt dann eine Überforderung, ein Untertraining des Fettstoffwechsels und ein Versagen im Wettkampf. Mir wird dann immer vorgehalten, dass ich doch der Auslöser sei, mit meiner Erfindung der strukturierten Endbeschleunigung.
Letzteres stimmt, aber ich habe niemals geschrieben oder gesagt, dass man auch die km vor der Endbeschleunigung schnell laufen soll. So ein Verhalten ist schlichtweg kontraproduktiv. Wenn in der direkten Marathonvorbereitung in den letzten 8 Wochen vor dem Rennen mit der Endbeschleunigungsserie begonnen wird, dann sollte der "Anlauf" bis zum Punkt des Starts der Endbeschleunigung ganz ruhig sein.
Man läuft im langsamen extensiven Bereich völlig entspannt bis zum Startpunkt, zum Beispiel bis 3 km vor dem Ziel und dreht dann auf und zwar mit allem was man hat. Dabei sollte man möglichst in die Nähe seines Marathon-Renntempos kommen.
Der Hintergrund ist der, dass man auf den ersten km des "Anlaufs" erst einmal seinen Fettstoffwechsel optimieren kann, um dann am Start der Endbeschleunigung bei voll laufendem Fettstoffwechsel auch noch die Kohlenhydrat-Verbrennung bis an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit zu treiben.
Die Erklärung des Nutzens der Endbeschleunigung für den Stoffwechsel ist die eine, die andere ist die Auswirkung auf die Psyche. Denn du musst ein erheblich höheres Tempo laufen und das im Zustand einer schon sehr starken und weiter fortfahrenden Ermüdung.
Und das hilft dir dann im Marathon. Du hast keine Angst mehr, dass du am Ende nicht mehr kannst und eventuell nicht in das Ziel kommst. Andererseits hiilft dir das aber auch nicht viel, wenn du schon vom Start des Trainings möglichst schnell losläufst, um dann am Ende langsam einzugehen. Das schadet deiner Psyche und vergrößert den Respekt vor der Strecke. Und das ist alles andere als sinnvoll.
Zudem wirst du erleben, dass du zwar oft deine Trainings über km immer schneller laufen kannst, wenn du dann aber in das Rennen kommst, spürst du die große Leere in dir. Hohl und ausgebrannt. Schon dieses Gefühl macht dich fertig und verhindert noch zusätzlich, dass du wieder auf die Beine kommst.
Zu Ende kommend meine Ratschläge zusammen gefasst: Du kannst ohne Probleme in der direkten Wettkampfvorbereitung bei den Tempoläufen richtig Gas geben und auch um deine Zeit kämpfen. Aber lasse dir in den Zwischentagen Ruhe, versuche nicht die regenerativen und extensiven Einheiten auch auf Tempo zu laufen.
Höre auf deinen Körper: Er sagt dir, ob du heute besser langsamer laufen sollst oder nicht. Denke daran, dass dich zwar ein dauerhaftes zu hohes Tempo schneller in Form bringt. Aber eine hochgepeitschte Form auch schnell wieder zu Ende ist.
Denke daran, dass je intensiver die Tempoeinheit war, desto regenerativer sollten die nachfolgenden Tage sein.
Und wenn du die 25 oder 35 km läufst, dann lasse es langsam angehen. Nimm deine Zeit nur über die Endbeschleunigungs-km. Das ist dein Trainings-Leistungs-Maßstab und nicht die Zeit über die Gesamtstrecke. Einmal in den 8 Wochen kannst du es versuchen sie mit ganzer Kraft zu laufen, aber mehr geht nicht.
Sonst liegst du sinnbildlich bald in der Leistungsurne, bist einfach verbrannt. Aber ich weiß, dass du es nicht so weit kommen lässt. Deine Halb- und Marathonrennen in diesem Halbjahr werden großartig, weil du, wenn du auch so ein "Flieger" bist, endlich gelernt hast dich zusammen zu nehmen.