Die Angst vor Übertraining ist heute weit verbreitet. Ausdruck dessen mag eine Mail eines Greif-Club-Mitglieds sein, die mich vor kurzem erreichte: "Gerade vor diesem Übertrainings-Zustand habe ich allergrößte Angst und hatte mich deshalb zur Bestellung eines Trainingsplans bei dir und anschließend zum Kauf einer POLAR RS 400 entschlossen. Damit ich deine Tempovorgaben überall, wo ich gerade zum Laufen anhalte, einhalten kann."
Oh je, dachte ich, der gute Mann trainiert viermal in der Woche und hat Angst vor Übertraining. Die sollte man ihm nehmen, denn es ist kaum möglich sich mit 3 Pausentagen pro Woche überzutrainieren. Wie kommt er nur zu dieser Angst? Und warum Angst? Übertraining ist doch nicht Schlimmes, so etwas heilt ruckzuck folgenlos aus, wenn man es nicht über Monate betreibt. Aber auch der härteste dieser Zustände klingt nach drei, höchstens vier Wochen relativer Ruhe wieder ab.
Der Schreiber dieser Zeilen versucht mit Hilfe seines neuen Pulsmessers unsere Trainingspläne möglichst genau nach den Herzfrequenzmessungen im Plan umzusetzen und stellt nun mit Bestürzung fest, dass er bei eigentlich vorgegeben extensivem Dauerlauftempo, in den, wie er schreibt, GA2-Bereich kommt. Bei uns heißt dieser Bereich Intensiver Dauerlauf. Das findet er bedrohlich und bekommt Angst sich überzutrainieren.
Ihm ist ja kein Vorwurf zu machen, denn wir alle werden geradezu mit Informationen von Handel und Industrie bombardiert, möglichst nach Puls zu trainieren. Immer mit dem drohenden Finger: "Wenn du das nicht tut tust, machst du dich kaputt!" Was aber im Klartext heißt: "Kaufe mein Pulsmessgerät, ich brauche dein Geld!"
Wie aber war das früher, als es noch keine tragbaren funktionsfähigen Pulser gab? Anfang bis Ende der 70-er Jahre in der Gründerzeit unserer Laufbewegung hatte niemand so richtig Ahnung vom Langlaufen. Wer trainieren wollte, lief einfach los, mal schneller oder langsamer und schaute, was dabei heraus kam. Es wurde zwar ständig über Trainingsmethodik gestritten, aber Training war im Großen und Ganzen Versuch und Irrtum. Niemand hatte die Bremse am Arm und es wurde gerannt. Was dabei heraus kam war, dass die wenigen Aktiven, die es damals gab, in Wettkämpfen liefen wie die Hasen und zwar im Durchschnitt viel schneller als heute üblich.
In den 80-er Jahren ging es dann so richtig los. Jung und alt fingen an laufen, es kam zu dem bekannten Lauf-Boom. Bald waren es 10000-de die liefen und Rennen bestritten. Mitte der 80-er gab es schon über 30000 Marathonläufer(innen). Ihr Kennzeichen: Sie waren im Schnitt und in der Spitze erheblich schneller als die ersten 30000 aus der heutigen Bestenliste.
Der 50. der deutschen Bestenliste von 1985 lief noch eine 2:22. In 2006 hätte das zum 7. Rang gereicht. Nun könnte man ja annehmen, nur die Spitze ist langsamer geworden. Leider ist das auch nicht so, auch Breite sackte und sackt leistungsgemäß immer mehr in den Keller. Und zwar so, dass einem Trainer die Tränen kommen könnten.
Wenn man damals jemand nach Übertraining fragte, dann kam zurück: "Was'n das?" Kaum jemand hatte Angst vor diesem vorübergehenden Zustand und ebenso lief nur eine verschwindend geringe Anzahl von Läufer(innen) nach Puls. Je mehr sich nun aber die Herzfrequenz-Messgeräte verbreiteten, desto schlechter wurden die Laufleistungen und die Angst vor Übertraining stieg. Denn jetzt hatten die Pulserträger ihre aktuelle Herzkreislaufleistung als drohenden Finger vor Augen.
Ich kann ja einmal ketzerisch sein: Statistisch lässt es sich beweisen, dass mit steigender Nutzung der Puls-Messgeräte die durchschnittlichen Leistungen immer schlechter wurden.
Kaum jemand traut sich noch an seine Leistungsgrenzen zu gehen oder diese zu überschreiten. Die Bremse am Handgelenk blockt alles ab. Der Glaube an die wirksame und erfolgreiche Regulierung des Trainings durch die Herzfrequenz-Messung ist groß. Es sollte aber jedem klar sein, dass mit der immer wiederkehrenden Empfehlung, ja immer auf den Pulser zu achten, massive Interessen von Industrie und Handel stehen. In diesem Chor singen auch einige Wissenschaftler mit und es ist unschwer vorstellbar, dass sie dies ohne Vorteilsnahme tun.
Es hatte auch niemand Angst vor Kilometern. Der Nachkriegsgeneration war klar: "Wenn du etwas erreichen willst, dann musst du arbeiten!" Und wer weiter vorn sein wollte, der musste mehr arbeiten. Es wurden km geschrubbt, dass es eine wahre Freude war. In unserem Verein der LG Seesen, waren 140 km/Woche Standard. Wer mehr wollte, lief bis 200 km/Woche. Mit solchen Umfängen darf ich heute den meisten nicht mehr kommen. Es findet teilweise eine regelrechte Hexenjagd auf mehr Arbeit fordernde Trainer statt.
Leute wie ich es auch bin, werden verteufelt, weil wir Methoden vertreten, von denen wir wissen, dass sie funktionieren, dies auch beweisen und jeden je nach individuellen Talent zum persönlich möglichen Erfolg tragen. Da man uns trainingsmethodisch nicht wiederlegen kann, wird immer wieder mit der bösen Überforderung gedroht.
Wenn das so ist, dann waren wohl alle Läufer damals überfordert? Oder gibt es jetzt einen neuen Menschen? Den wir das 2-Minuten-Ei nennen? Einer der schon nach 5 km Tempodauerlauf glaubt sich übertrainiert zu haben und gleich einen Termin beim Dr. macht.
Wie wurde früher trainiert? Es wurde auch damals nach dem Prinzip von An- und Entspannung gelaufen, aber wenn es am Entspannungstag den Berg hoch ging und wir hatten Kraft genug, dann ging die Jagd los. Die Hackordnung in der Trainingsgruppe musste an jedem Tag verteidigt werden. Fühlten wir uns schwächer, ließen wir es sein und schlossen Frieden. Aber wenn es bei einem Tempotraining nicht richtig "lief", dann gingen wir von der Bahn und joggten 20 km im Wald. Wir liefen nach Zeit und hörten dabei aber immer auf unseren Körper, der sagte uns schon, wenn es zu viel oder zu schnell wurde. Und das klappte und zwar bei jedem/r, denn der Organismus gibt exakte Warnsignale. Man darf nur nicht weghören!
Ein Beispiel mag wegweisend sein. In unserer Gruppe trainierten von 1982 bis Mitte der 90-er, das damalige Ehepaar Herbert und Brigitte Jordan mit. Herbert lief im Marathon 2:29 und Brigitte eine 2:52. Letztere war im Training mit uns eigentlich überfordert, weil unser normales Dauerlauftempo viel zu schnell für sie war. Aber sie hielt mit, nur am Berg schaffte sie es nicht, aber nach jedem Hügel warteten wir oben auf sie und liefen dann gemeinsam weiter. Brigitte war dann nach einem solchen 20 km-Lauf zwar immer ziemlich kaputt, aber nicht erschöpft. Wenn es ihr zuviel war, dann zog sie sich für ein bis zwei Tage zurück, lief ihr eigenes Tempo und alles war wieder gut. Hätte sie schon einen Pulser gehabt, dann wäre sie sicher erschrocken, denn mit uns musste sie fast immer schneller laufen, als das, was heute als "richtig" vorgegeben wird.
Brigitte war damals in Wettkämpfen maximal erfolgreich. Ich weiß gar nicht, wie viel mal sie Altersklassenbeste (die damalige Deutsche Altersklassen Meisterschaft) war. Ich denke, es waren so an die 10 deutsche Titel. Wir haben das damals nicht so gezählt, denn es gab nur wenige Frauen die liefen und da haben wir machohaft deren Leistungen unterbewertet. Heute schäme ich mich dafür, wir hätten die so großartige Brigitte Jordan viel mehr feiern sollen. Sie brachte immer ihre Leistung, obwohl sie jeden Tag 10 Stunden arbeitete.
In der nächsten Woche setze ich diesen Artikel unter dem Titel: "Nur die Besten trainieren sich über!" fort. Und dann wirst du erfahren, dass meist das vermeintliche Übertraining, ganz etwas anderes ist als gedacht.