Im Augenblick, in dem ich diese Zeilen schreibe, weile ich in einem Trainingslager und kann mit Muße jeden Tag auf die unterschiedlichsten Läufertypen schauen. Besonders auffällig dabei ist, dass die Schnellen deutlich organisierter und ehrgeiziger sind. Diese kommen jeden Tag zum morgendlichen Athletiktraining und lassen auch sonst keine Einheit aus.
Die zweite Auffälligkeit ist zu sehen, wenn wir zusammen einen zehn Kilometer Tempolauf bestreiten, bei dem niemand eine Uhr oder einen Pulser tragen darf. Dieser Lauf ist eigentlich als Training gedacht, aber er wird durch die Zusammensetzung zu einem Wettkampf. Wir nehmen am Ende dieses Laufs die Zeiten und stellen eine Ergebnisliste zusammen.
Und dann sehen wir Erstaunliches! Die Läufer und Läuferinnen laufen nicht selten ihre persönliche Bestleistung über die zehn Kilometer. Bei dem letzten Lauf dieser Art verbesserte sich sogar jemand gleich um fünf Minuten.
D.h. mit anderen Worten, dass die Menschen sich durch Uhr oder Pulser ausbremsen lassen. Man kann auch mangelndes Selbstvertrauen hinter diesem Verhalten vermuten. Wer so eine derartige seelische Struktur sein eigen nennt, der hat es im Leben nicht leicht, denn er vermutet ständig, dass er weniger Talent hat, als der Läufer nehmen ihm.
Wenn du an der Richtigkeit dieser Aussage zweifelst, solltest du einmal das Buch von Daniel Coyle „Die Talentlüge“ lesen. Der Autor führt dort eine große Anzahl von Menschen auf, die anscheinend ein durchschnittliches Talent haben, aber dennoch großartige Spitzenleistungen vollbringen.
Aber umsonst sind diese Spitzenleistungen nicht, dafür musst du schon 10.000 Stunden trainieren, so Coyle. Das sind 6666 Einheiten, die kannst du auf 18 Jahre verteilen, dann bist du an der Spitze deiner Fähigkeiten angekommen. Wenn du zweimal täglich trainierst, dann reichen 9 Jahre.
Du wirst dich fragen, warum denn afrikanische Läufer und Läuferinnen schon in jungen Jahren Spitzenleistungen zeigen. Die Antwort ist eigentlich simpel: Die fangen schon an zu trainieren, wenn sie nur auf den Beinen stehen können. Nach dem Eintritt der Pubertät beginnen ambitionierte Jugendliche dann schon zwei- bis dreimal täglich zu trainieren.
Du wirst dich natürlich fragen, wie du so etwas in deinem Tagesablauf unterbringen könntest. Das ist gar nicht so problematisch, denn im Internat von Iten/Kenia, des Trainers Pater Colm O´Conell wird im folgenden Rhythmus trainiert: Das 1. Training von 6 bis 7, das 2. dann nach der Schule um 13 Uhr und das Abschlusstraining um 18 Uhr.
Du wirst denken, so etwas ist nichts für mich, diese Zeit habe ich gar nicht. Aber in der Regel hat jeder Mensch ein freies Zeitpotenzial. Zum Beispiel ist es nicht nötig bestimmte Fernsehsendungen zu sehen, die nur der Unterhaltung dienen.
Allein wer morgens eine Stunde früher aufsteht und zusätzlich zu seinem normalen Training zehn Kilometer joggen geht, wird einen großen Leistungssprung erzielen. Du brauchst nicht unbedingt das Training der Weltklasse, sondern du musst nur die möglichen und nötigen Maßnahmen ergreifen.
Willst du raus aus dem Feld der Schleicher und Schlaffis? Dann trainiere und glaube!!! Fast immer sind unerfahrene Läufer(innen) viel leistungsfähiger als sie denken. Das Einzige, was diesen Leuten fehlt, ist der Glaube an die eigene Leistungsfähigkeit.
Ein Langstrecken-Lauf-Talent zu erkennen ist sehr schwer, man irrt sich oft. Selbst der Schreiber dieser Zeilen kann und konnte eine Begabung nicht sicher erkennen. Oft genug habe ich mich getäuscht, einige Athleten(innen) über- andere unterschätzt.
Denkst du oft, dass es viele im Sport leichter haben als du, mehr Zeit zum Training und sich vor allen Dingen nicht quälen müssen? Auch das ist immer ein Fehlschluss. In der Regel antworten überdurchschnittlich gute Läufer(innen), wenn man sie nach ihrem Talent fragt: "Ich bin kein Talent, ich habe mir alles erarbeitet!" Ein guter Läufer besteht aus 10% Ehrgeiz, 10% Talent und 100% Training. Lächele ruhig, natürlich sind das 120%, aber es trifft das, worum es wirklich geht.
Dazu möchte ich dir die Geschichte von Joachim und Andreas erzählen, die zwar alt, aber immer noch faszinierend ist: Im Jahr 1981 - das war das 1. Jahr des Bestehens unserer Langstreckengruppe in der LG Seesen - stieß mit Joachim ein 18-jähriger junger Mann aus der eigenen Leichtathletik-Abteilung zu uns. Ohne Joachims Fähigkeiten abzuwerten, waren die froh, ihn los zu sein, denn durch großes Talent fiel er dort nicht gerade auf.
Gleichzeitig sammelten wir im Winter den 22-jährigen Andreas auf. Dieser kam von der Bundeswehr, hatte eine gute Grundkondition und joggte allein im Wald, wo wir ihn ansprachen. Beide trainierten fleißig und entwickelten sich gut. Im August lief Andreas schon 16:39 min über 5000 m, Joachim war mit 17:47 eine ganze Klasse langsamer.
Im kommenden Jahr rannte Andreas schon 15:01 über die 12,5 Stadionrunden und Joachim verbesserte sich auch, kam aber "nur" auf 16:38 min. Ersterer war jetzt schon Bester im Verein und galt als das große Talent. Bei 1:23 über 25 km träumten wir alle in unserer Gemeinschaft schon von seiner großen Laufkarriere. Joachim hingegen kam nur auf Rang 8 der Clubwertung.
1983 dann: Andreas lief 2:23:15 im Marathon und 14:45 über 5000 m, Joachim 2:37 und 16:40. Wir hoben Andreas in den Himmel, aber täuschten uns leider, denn das Zauberspiel war schon vorbei. Er jammerte über das harte Training, kam nicht mehr weiter. Nur noch marginale Fortschritte waren zu verzeichnen.
1986 war er praktisch immer noch auf dem gleichen Leistungsstand wie 83. Völlig frustriert verließ er unseren Verein, stagnierte im neuen Club weiter und beendete in 1988 seine Laufkarriere. Im Grunde genommen hatte er erwartet, dass das Training im Verlauf seiner Entwicklung leichter werden würde.
Diese witzige Idee haben sehr viele Läufer, aber leider ist es so, dass das Training mit der Entwicklung eines Läufers immer härter wird. Die Umfänge werden nach oben geschoben und das Trainingstempo wird immer schneller. Wer damit nicht zurechtkommt, gibt in der Regel auf so wie Andreas.
Joachim aber machte unverzagt weiter: 1984 lief er 2:31 im Marathon und 16:06 über 5000 m, 1985 2:28 und 15:59, 1986 2:31 und 16:10, 1987 2:26 und 16:18 und schließlich 1988 2:24 und 15:21! Nach fast identischen Startbedingungen und Training erreichte Joachim 5 Jahre später fast das gleiche Leistungsniveau wie Andreas. Dabei hatten wir von Andreas alles erwartet, von Joachim nur wenig.
Fazit: Wie du aus den vorhergehenden Zeilen entnehmen konntest, ist es nicht nötig nach den anderen zu schielen, die schneller vorankommen. Auch du wirst die Leistungsleiter ersteigen können, nur ihr Ende wirst du niemals sehen können. Allein glauben wirst du daran, dieses Ende gesehen zu haben.