Ein Thema, bei dem es fast zu einer Art "Glaubenskrieg" kommt, ist das Dehnen VOR dem Training und dem Wettkampf. Es besteht viel Skepsis bezüglich des Stretchings vor intensiven Trainingseinheiten und Wettkämpfen auf die erzielbare Leistung. Für unser Lauftraining sollte man intuitiv anzunehmen, dass Muskeln und Gelenke, die sich mit weniger Aufwand frei bewegen können, die Leistung verbessern und man daher auch vor dem Training dehnen sollte. Obwohl viele Läufer die Dehnung regelmäßig in ihr Warmup integrieren, ist die Wirksamkeit bei der Verbesserung der physiologischen Reaktionen und der Laufleistung immer noch umstritten.
In den einschlägigen Trainerkursen wird vor dem Training nicht gedehnt. Die Dehnung erfolgt nach Beendigung des Trainings. Da wird von Verletzungsgefahr und Spannungsverlust in den Muskeln geredet.
Ich selbst habe von dieser Skepsis nie viel gehalten und habe vor jeder Tempoeinheit und jedem Wettkampf grundsätzlich „leicht“ statisch gedehnt. Nicht weil ich mich für klüger halte, sondern weil ich eine Erfahrung gemacht hatte, die die meisten nicht teilen konnten. Eine meiner Lieblingsstrecken auf der Bahn waren die 3000 m Hindernis. In jedem Jahr meiner "Bahn-Karriere" absolvierte ich davon mehrere Rennen. Hast du auch nur einmal versucht „ungedehnt“ flüssig über einen Hindernisbalken oder den Wassergraben zu springen? Keine Chance! Du bekommt das Bein gar nicht locker hoch. Also brauchte es vor jedem Training und Wettkampf ganz automatisch die entsprechende Dehnung.
Nun legen neue Forschungen jedoch nahe, dass aus der richtigen Integration des Stretching in ein Aufwärm-Programm ein Vorteil gezogen werden kann.
Dehnung umfasst eine Reihe verschiedener Techniken zur Aufrechterhaltung und Entwicklung der Flexibilität. Die vier häufigsten Arten sind:
- Dynamische Dehnung: Übungen, bei denen die Hauptmuskeln in sanften sich wiederholenden Bewegungen innerhalb ihres vollen, aber normalen Bewegungsbereichs rhythmisch bewegt werden.
- Statische Dehnung: Die Muskeln/Gelenke werden langsam und stetig in die Dehnungsposition bewegt und statisch gehalten (ohne rhythmische Bewegungen). Anschließend wird die Position wieder aufgelöst. Gilt als relativ sichere Technik zum Dehnen von Anfängern und zur Erhöhung des Bewegungsumfangs.
- Ballistische Dehnung: eine Erweiterung der dynamischen Dehnung, bei der der Muskel bis zum Ende seines Bewegungsbereichs gebracht und dann durch "Bouncen" leicht überdehnt wird. Nur gut trainierten Athleten, deren Sport explosive und ballistische Bewegungen erfordert, wird empfohlen, diese Art von Dehnung zu verwenden.
- Propriozeptive neuromuskuläre Moderation (PNF): eine Technik, die statische Dehnung mit zusätzlichem Widerstand (normalerweise von einem Partner bereitgestellt) kombiniert, gegen den die gestreckte Muskelgruppe arbeitet. PNF kann die weitere Flexibilität bei denjenigen verbessern, die bereits an statisches Dehnung gewöhnt sind.
An einer neue Studie waren 8 männliche Freizeitläufer beteiligt. Diese waren aktiv, betrieben aber kein systematische Ausdauertraining. Ihr Trainingsumfang betrug ca. 15 km pro Woche. Jeder Läufer wurde einem Protokoll aus 5 Einheiten (an verschiedenen Tagen) unterzogen. Dies waren:
- eine Startsitzung,
- ein Herz-Lungen-Test (CPET) und dann
- drei Sitzungen mit einem Lauftest bis zur Erschöpfung.
Alle Einheiten wurden auf einem Laufband, in einem Labor mit kontrollierter Temperatur und Feuchtigkeit jeweils zur gleichen Tageszeit durchgeführt. Von Interesse waren jeweils die 3 Lauftests bis zur Erschöpfung. Bei diesen 3 Läufen absolvierte jeder Läufer verschiedene Aufwärmprogramme:
1. Statisches Dehnung:
Hier bestand das Aufwärmen aus 10 Minuten Laufen bei 60-70% VO2max plus fünf Minuten statischer Dehnung. Die Dehnungs-Übungen konzentrierten sich auf die folgenden fünf Muskelgruppen der unteren Gliedmaßen: Quadrizeps, Oberschenkel, Adduktoren, Abduktoren und Gesäßmuskeln. Alle statischen Dehnungen wurden 30 Sekunden lang pro Bein am "Punkt des Unbehagens" gehalten.
2. Dynamische Dehnung
Hierbei bestand das Aufwärmen aus 10 Minuten Laufen bei 60-70% VO2max plus fünf Minuten dynamischer Dehnung. Die Dehnungs-Übungen konzentrierten sich auf die gleichen Muskelgruppen der unteren Gliedmaßen und in der gleichen Ausführungsreihenfolge wie beim statischen Dehnen. Die Probanden wiederholten jede Übung 30 Sekunden pro Bein und der maximale Bewegungsbereich wurde erreicht, indem sie bei jeder Wiederholung eine sekundäre Zugbewegung gewährleisteten. Sowohl die Dehnungsintensität (100% des Unbehagenspunkts) als auch das Dehnungsvolumen (30 Sekunden pro Bein) wurden für die beiden Dehnungsprotokolle abgestimmt.
3. Keine Dehnung
In der "No-Stretch"-Sitzung bestand das Aufwärmen einfach aus 15 Minuten Laufen mit einer Intensität, die 60-70% VO2max entspricht.
Nach jedem o.g. 15 minütigem Aufwärmprogramm (1-3) folgten 5 min Ruhezeit in stehender Position. Am Ende dieser Ruhezeit wurden sie gebeten, 5 Minuten lang einen konstanten submaximalen Lauf mit 70% VO2max durchzuführen, um die Lauf-Ökonomie zu bewerten. Am Ende des submaximalen Laufs liefen die Probanden weiter, aber die Geschwindigkeit wurde so weit erhöht, dass die Probanden bei fast 100% VO2max liefen. Von diesem Zeitpunkt an wurde die Zeit bis zur Erschöpfung (TTE) gestoppt. Darüber hinaus wurde die Bewertung des psychophysiologischen Stresspegels der Läufer auch über die wahrgenommene Anstrengung (RPE) aufgezeichnet.
Die Ergebnisse
Sobald die Läufer alle drei Lauftests abgeschlossen hatten, waren die wichtigsten Ergebnisse folgende:
- Die Lauf-Ökonomie (Verhältnis zwischen Laufleistung und Sauerstoffverbrauch) verbesserte sich bei den Aufwärmprogrammen mit statischer und dynamischer Dehnung im Vergleich zum Programmohne Dehnung erheblich! Einfach ausgedrückt bedeutet dies, dass die Läufer, die sich im Rahmen ihres Aufwärmens gedehnt haben, Sauerstoff effizienter in ihren Laufmuskeln nutzen konnten - oder anders ausgedrückt, sie konnten das submaximale Lauftempo beibehalten und gleichzeitig weniger Sauerstoff verbrauchen. Die Verbesserungen waren erheblich: beim Aufwärme ohne Dehnung benötigten die Läufer durchschnittlich 29,7 ml/kg/min Sauerstoff, um das Tempo aufrechtzuerhalten, während beim statischen und dynamischen Aufwärmen der Sauerstoffbedarf auf 24,7 bzw. 23,9 ml/kg/min fiel.
- Im Einklang mit der o.g. Lauf-Ökonomie, wurde die wahrgenommene Anstrengung der Läufer am Ende der Sitzung mit dynamischer oder statischer Dehnung in gleicher Größenordnung signifikant reduziert (siehe Abbildung 1).
- Die Zeiten der Läufer bis zur Erschöpfung im der intensiven Testteil der Sitzung wurden durch das Aufwärmen mit Dehnung nicht verbessert. D.h. hier scheint die Dehnung keine unmittelbaren Vorteile zu geben.
Abbildung 1: Wahrgenommene Anstrengungsrate während des submaximalen Laufs. Jeder schwarze Punkt stellt einen einzelnen Läufer dar. (Quelle: Andrew Hamilton, Sports Performance Bulletin, 2021)
Was bedeutet das jetzt?
Abgesehen davon, dass es eine Studie mit nur einer kleinen Anzahl Teilnehmern war, gab es keinerlei Nachteile des Dehnens in der Warmup-Routine. D.h. wir können durchaus davon profitieren, Stretching vor dem intensiven Training einzubauen. Kurz gesagt, es kann das Training einfacher und angenehmer machen! Darüber hinaus könnte die regelmäßige Einbeziehung des Warmup-Stretching theoretisch eine kumulative Wirkung für Athleten bieten, die viele Tage pro Woche trainieren. Ein reduzierter Sauerstoffverbrauch in einer Reihe aufeinanderfolgender Einheiten sollte zu einer geringeren Gesamttrainingslast führen, was dem Athleten hilft, die nächsten harten Einheiten frischer zu absolvieren. Es bleibt aber zu beachten, dass die Dehnung beim Aufwärme keine Vorteile in Bezug auf die erreichten Zeiten brachte.
Beachte dass wir hier nicht von Dehnung wie z.B. der bereits im Newsletter angesprochen Methode nach "Liebscher & Bracht" reden. Wir reden über ca. 30 Sekunden pro Dehnungsübung.
(Quelle: Andrew Hamilton, Sports Performance Bulletin, 2021)