Nun zurück zu der in der Vorwoche versprochenen Wintervorbereitung für kürzere Wettkämpfe von 5000 m bis hin zum Halbmarathon. Jetzt erwartest du sicher von mir hier ein Feuerwerk von kurzen und scharfen Einheiten, die deine Fähigkeiten auf den Kerndistanzen in ungeahnte Höhen treibt.
Aber bevor wir zu diesen Einheiten kommen, sollte ich dir ein paar Geschichten erzählen, die dich sicher nachdenklich stimmen werden:
In 2005 trainierte parallel zu unserem Trainingsurlaub ein junger deutscher Eliteläufer auf unserer Tempolaufstrecke in Andalusien, der in den DLV-Bestenlisten 2004 weit vorn platziert war. Es war Februar und wir quälten uns noch mit den langen Wiederholungsläufen, wie dreimal 4000 m, herum. Und dieser junge, sehr hoffnungsvolle Mann lief 400-er mit einer Pause von ca. 15 sec in einem Tempo, welches weit unter seinem 5000 m-Renntempo lag.
Nach jeder Wiederholung trat er mit noch verdrehten Augen wieder an und raste die 400 m nur so runter. Ich fragte ihn dann, ob er sich denn auf ein spezielles Ereignis im frühen Frühjahr vorbereite. "Nein, ich laufe ganz normal 5000 m!"
Meine zweite Frage war, warum er denn jetzt im Februar schon solche hohen Intensitäten mit so einer kurzen Pause laufe. Diese Frage hätte ich schon nicht stellen sollen, denn ich erntete ein abschätziges Abwinken und irgendwas Gezischtes, was ich nicht so richtig verstand.
Und weiter ging die Hatz. Und ich dachte mir: "Den musst du doch in diesem Jahr einmal intensiv beobachten. Wenn diese Sache klappt, dann hat er die Trainingslehre neu erfunden." Offensichtlich klappte es aber nicht, denn in der deutschen Bestenliste 2005 tauchte dieser Mann nicht mit einem einzigen Resultat auf.
Den Anfang meiner Skepsis gegenüber höchsten Intensitäten zur Verbesserung der Laufleistungen auf den mittleren Langstreckendistanzen legte eine Episode Ende der 80-er Jahre. Im Rahmen einer Trainer-Fortbildung vom DLV hospitierte ich beim damaligen Marathon-Bundestrainer Winfried Aufenanger. Dessen Marathon-Spitzenathlet Ralf Salzmann (PB 2:10:10) stagnierte etwas und beschloss einmal ein Jahr darauf zu verwenden, um auf den unteren Distanzen schneller zu werden.
Aus dem hinzugewonnen Leistungsvermögen sollten dann wiederum verbesserte Möglichkeiten auf der Marathonstrecke resultieren. Ralf stellte sein Training um und trainierte intensiver. Die Folge war, dass sich weder seine Resultate auf den Unterdistanzen, noch die der Marathonzeiten verbesserten.
Paula Radcliffe ist einen ähnlichen Weg gegangen. Die großartige Marathonweltrekordlerin mit einer Zeit von 2:15:25 versuchte sich international erst auf der Bahn, bevor sie sich den 42,2 km zuwandte. Leider verlor sie bei internationalen Bahnwettkämpfen und Meisterschaften regelmäßig im Spurt. "Paula ist einfach zu langsam auf den letzten 400 m!" Das war schon fast ein geflügeltes Wort in der Langstreckenszene. Die Engländerin arbeitete mit allen Möglichkeiten, um ihre Spurtfähigkeiten zu verbessern. Leider vergeblich, ihre Konkurrentinnen freuten sich weiter auf die letzte Runde und sie wurde immer wieder "durchgereicht".
In 2001 fing Paula an sich für den London-Marathon in 2002 vorzubereiten und plötzlich platzte der Knoten in den Beinen der Britin. Im September 2001 lief sie mit 1:05:40 Halbmarathon-Weltrekord, gewann im Frühjahr 2002 den London- und im Herbst den Chikago-Marathon. Aber was viel wichtiger ist, sie siegte im August bei den Europameisterschaften in München über 10000 m.
Das war ihr erster großer internationaler Titel. Erst das Marathontraining machte sie paradoxerweise siegfähig auf den kürzeren Strecken. Nachfolgend startete Paula eine einmalige Erfolgserie. Sie brach von 2002 - 2004 praktisch jeden persönlichen Rekord oberhalb von 2000 m.
Ich denke hier sind die Kritiker widerlegt worden, die immer noch behaupten, das Marathontraining langsam macht. Natürlich ist Paula Radcliffe durch das Training für die 42,2 km nicht sprintschneller geworden. Sie hat aber ihr Leistungsniveau in seiner Gesamtheit so weit angehoben, dass sie der Konkurrenz im Rennen so weit enteilen konnte, dass denen auch kein Spurt mehr zum Sieg verhalf.
In der täglichen Praxis scheint diese Erkenntnis noch keinen Eingang gefunden zu haben. Wer keinen Marathon laufen will, hält sich oft für einen Sprinter und verlangt ein entsprechend intensives Training, wenig Umfang und vor allen Dingen sollte die längste Strecke möglichst kurz sein.