Heute kommen wir zum vierten und letzten Teil des Themas Ausdauerentwicklung. Aber vorher muss ich meinem Herzen doch einmal etwas Luft machen: Zu jedem Newsletter erreichen mich Mails, meist lobend anerkennend, aber andere auch kritisch und manchmal glaube ich, die Schreiber kommentieren etwas, was sie irgendwo anders gelesen haben müssen.
Die Zustimmung, die die Ausdauerartikel bekamen, war groß. Aber einige Läufer schrieben mir so oder so ähnlich: "Super, jetzt sagt endlich mal einer die Wahrheit, Tempo laufen ist schädlich, nur durch langsam laufen bekommt man mehr Ausdauer!" He? Wo haben die Leute, denn das her? So etwas habe ich weder geschrieben, noch gedacht? Langsam laufen ja, aber nur wenn es angebracht ist. Es gibt noch eine andere Ausdauerentwicklungs-Möglichkeit, die diese Leute völlig verkennen. Ausdauer wird auch überragend geschult durch Tempodauerläufe, wie etwa 10 - 15 km im höchst möglichen Dauerlauftempo!
War da der Wunsch der Vater des Gedankens? Tempodauerläufe sind nämlich nicht gerade das Geschmackvollste, was unser Training zu bieten hat. Diese Übungen kosten eine Menge Überwindung und bereiten zum Ende hin auch Schmerzen. Ich selbst habe in der Vergangenheit über 25 Jahre lang so viele davon absolviert, dass mir jetzt schon bei dem Gedanken an einen Tempodauerlauf schlecht wird.
Die Folgen davon sind aber auch nicht zu übersehen. Da ich nun keinen Meter mehr schnell renne, liege ich mit meinem möglichen Trainingstempo so zwischen der Geschwindigkeit einer Rüttel- und tektonischen Platte. Ich bin zu einem demütigen Opfer für bierbäuchige Lauftreffler und dickhintrige -innen geworden. Anfänger grüßen mich mit einem deutlichen Überlegenheitsgehabe und manchmal ernte ich auch - was noch schlimmer ist - mitleidvolle Blicke.
Aber es soll sich keiner in Sicherheit fühlen! Wenn Sonne und Mond im richtigen Winkel stehen, es nicht zu kalt oder zu warm ist, werde ich auch einmal wieder einen Tempolauf wagen, denn im kommenden Januar möchte ich zusammen mit ein paar anderen Läufern auf den Kilimanjaro steigen und dabei soll eine gute Kondition nicht schädlich sein.
Bisher haben wir hauptsächlich den Typ Läufer(in) betrachtet, der mit einer Mischung von roten und weißen Fasern ausgestattet ist. Dieser Typ entwickelt seine Leistung langsam aber dauerhaft, weil seine weißen Fasern erst das ausdauernde Laufen lernen müssen.
Was aber passiert nun mit dem Läufermodell, welches vornehmlich mit roten Fasern ausgestattet ist? Dieser Mensch, der nun so gar kein Problem hat 35 km zu laufen und seine Leistung so überragend schnell entwickelt? Du machst im Jahr bei hartem Training 30 sec über 10 km gut und dieses "Rotfaserbein" hat kein Problem mit 1,5 min und trainiert viel weniger als du. Das ist doch ungerecht!
Ist es nicht, denn auch unser Schnellentwickler lernt seine Grenzen kennen. Da seine Muskeln zum großen Teil aus den Fasern bestehen, die die Natur für das ausdauernde Laufen vorgesehen hat, entwickelt er sich überraschend schnell, hat er aber auch ganz schnell scheinbar sein persönliches Leistungspotential ausgeschöpft. Nach einer Zeit des stürmischen Aufstiegs, stagniert oft seine Leistung.
Und dann hast du deine Chance! Wenn dein Holger Meier anfängt zu stagnieren, dann legst du erst richtig los. Du erhöhst die Anzahl deiner Einheiten und trainierst, wenn du Zeit dazu hast, auch zweimal am Tag. Da du dein Potential noch lange nicht ausgeschöpft hast, entwickelst du dich weiter und weiter. Denn du hast immer noch weiße Fasern, die nur darauf warten aufgeweckt zu werden. Und so kommst du deinem Holger immer näher, denn der sitzt schon auf seinem rotenmuskeligen Leistungspo und starrt auf dich wie die Maus auf die Schlange, die sich anschleicht.
Beispiele, wie lange es dauern kann mit einer Leistungsentwicklung, gibt es zu Hauf. Läufer die schon am Verzweifeln waren, weil es nicht mehr weiter ging, erreichen doch ihre Ziele nach Jahren, wenn sie nicht vorher schon resignieren. Ein Abbild dessen ist die Entwicklung von Ansgar Brauner hier aus Seesen, die ich innerhalb dieser Serie schon beschrieben habe.
Ein anderes Beispiel ist der Berliner T.G., der jahrelang einer Marathonzeit von 3 h hinterherlief, obwohl seine Unterdistanzzeiten schon lange diese Leistung hätten zulassen müssen. In diesem Jahr nun kam er ganz locker auf 2:56 und stellte auch noch weitere persönliche Rekorde auf. Geduld und Trainingsfleiß lohnen sich immer.
Auch mein eigenes Entwicklungsmodell zeigt, was alles möglich ist. Ende 1976 beendete ich nach einer ziemlich schweren Verletzung und einer missglückten Operation meine Laufkarriere. Es fiel mir eigentlich auch nicht schwer, denn ich war davon überzeugt, dass ich mit einer Marathonzeit von 2:29 und damals 33 Jahre alt, mein Leistungszenith schon erreicht hatte.
1981 begann ich wieder zu trainieren und dies nun mit einer 25%-igen Behinderung und trotz einem ärztlichen Sportverbot. Ich glaubte damals auch nicht eine Sekunde daran, meine frühere Marathonbestzeit noch einmal erreichen und noch viel weniger sie auch noch unterbieten zu können. 2,5 Jahre später aber war sie dann schon fällig und in 1984 lief ich zweimal als nun 41jähriger eine 2:24. In diesen Jahren habe ich nicht nur einen Holger Meier überholt, sondern Scharen davon in Grund und Boden gelaufen.
Gehen wir aber noch einmal zurück zu deinem Holger Meier, der sich in den ersten Jahren seiner Karriere so schnell entwickelte und nun nicht mehr so richtig weiter kommt. Diese Typen nehmen ihre Leistungsstagnation erst einmal hin: "War nicht mein Jahr!" Oft trainieren sie fleißig weiter, aber genau so oft verzweifeln sie an ihrem "Schicksal" und beenden ihre Karriere, in dem Glauben, dass keine weiteren Leistungsfortschritte mehr zu erwarten sind.
Und das ist meistens ein Fehlschluss! Denn jetzt steht dein Konkurrent an dem Punkt, an dem du schon am Anfang deiner sportlichen Entwicklung standest. Er muss, um noch weiter zu kommen, nun auch seinen weißen Fasern das ausdauernde Laufen beibringen. Auch ein überwiegend mit roter Muskelatur ausgestatteter Läufer besitzt Anteile dieser Fasergruppe, die noch in Richtung Ausdauer trainiert werden können. Diese weißen Partien ruhen aber noch völlig unangepasst in seiner Muskelatur. Holger hat sie in der Vergangenheit nie gebraucht, er hatte ja genug von den roten Ausdauerspezialisten.
Das Problem was unser "Rotfaserbein" nun hat, ist die Erfahrung, dass die weißen intermediären Fasern nun nicht so mit Begeisterung auf die Trainingsreize reagieren, wie seine schon austrainierten roten. Und wie soll er denn nun seine intermediären Fasern dazu verleiten, ihren Beitrag zum ausdauernden Laufen beizutragen? Er kann dass zum Beispiel, in dem er es so macht, wie du am Anfang deiner Entwicklung, als du begannst dich an die 35 km zu gewöhnen.
Aber unser jetzt stagnierender früherer Schnellentwickler kommt nun mit 35 km nicht mehr aus, er muss, um den richtigen Trainingsreiz zu setzen, schon auf die 40 - 45 km gehen. Jetzt kannst du dich in Schadenfreude wiegen, denn er erlebt nämlich genau das Unbehagen, welches du damals bei deinem ersten 35-ern erleiden musstest. Das Tragische für dich ist aber, dass du ihn mit einem solchen Training wieder am Hals hast. Nach einer Zeit der Anpassung macht er wieder Fortschritte und entfernt sich abermals von dir, wenn du nicht gegen hältst.
Unter der Prämisse der Rekrutierung auch der letzten potentiellen Fasern, sind auch die uns schier ungeheuerlichen Umfänge zu sehen, die japanische Marathonläufer- und Läuferinnen absolvieren. Es wird von Trainingseinheiten von bis zu 80 km-Länge berichtet. Wenn diese Sportler das Training durchhalten, bringen sie sehr sichere Höchstleistungen und gewinnen oft internationale Meisterschaften. Nicht zu verkennen ist die dabei entstehende Überlastungsgefahr, die sich mit meist sehr langwierigen Verletzungen rächen kann.
Ein anderes System trainiert z.B. Paula Radcliff, die im Training ein sehr hohes durchschnittliches Tempo läuft, aber etwas weniger km absolviert. Aber auch das höhere Tempo bewirkt eine Rekrutierung neuer noch nicht lauffähiger Muskelfasern. Weil durch die stärkere Belastung die Ausdauerfasern schneller ermüden, wird ein zeitlich früherer Zugriff auf die intermediären Fasern ausgelöst.
Aber Vorsicht! Das Trainingssystem von Paula Radcliff und das der Japaner unterscheidet sich zwar grundlegend, beide Systeme stellen aber eine grenzwertige körperliche Belastung dar, die nur unter Profibedingungen eingesetzt und welche auch nur von wenigen Menschen ausgehalten werden. Aber Talent ist nun eben nicht allein schnell und ausdauernd rennen zu können, sondern die Belastungsverträglichkeit ist ein entscheidender Faktor in Richtung Goldmedaille.
Auch wenn die Chance auf eine Medaille nur klein ist, so kann ich dir als Fazit nur eines mitgeben: Auf welchen Niveau du auch immer läufst, über dir ist noch eine Menge Luft!